Manchmal können politische Ereignisse ein Lebenswerk über Nacht zerstören. Die russische Invasion in die Ukraine im Februar 2022 machte das für Rune Rafaelsen zur traurigen Realität. Den Großteil seines Lebens verbrachte er im norwegischen Kirkenes, direkt an der russischen Grenze. Er glaubte fest an die Kooperation mit Russland, daran, dass Freundschaften, kultureller Austausch und wirtschaftliche Beziehungen über Systemgrenzen hinweg eine gemeinsame Zukunft ermöglichen könnten. „Für mich ist es traurig. Aber am schlimmsten ist es für die Menschen in der Ukraine“, sagt er nachdenklich.
Rafaelsen engagierte sich schon als Jugendlicher in der Politik, protestierte in den 1970er Jahren gegen den Vietnamkrieg und engagierte sich in der Umweltbewegung. 1990 hängte er seinen Lehrerjob an den Nagel, um sich voll und ganz dem Ausbau der Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen Norwegen und der Sowjetunion, später Russland, zu widmen. Er managte im Auftrag des norwegischen Außenministeriums norwegisch-russische Projekte im Bereich Wirtschaft und Kultur. Und das alles von seiner Heimatstadt Kirkenes aus. „Es war eine euphorische Stimmung hier. Die Wirtschaft wurde angekurbelt“, erinnert sich der heute 71-Jährige und Bürgermeister der Hafenstadt von 2015 bis 2020. „Es entstanden viele Kontakte zwischen Menschen über die Grenze hinweg. Es gab Austausche zwischen Schulen und das typisch norwegische Freitagabendbier trank man in der russischen Kleinstadt Nikel. Es wurden immer mehr binationale Ehen geschlossen.“ Rafaelsen hatte ein neues großes Land mit unzähligen Möglichkeiten vor sich. Als Grenzbewohner hatte er ein Dauervisum. Die Ein- und Ausreise war unkompliziert. Er knüpfte unzählige Kontakte nach Russland, zunächst auf lokaler Ebene, doch bald vermittelte er auch zwischen Oslo und Moskau. 2020 bekam er in der russischen Botschaft in Oslo von Wladimir Putin eine Auszeichnung für sein Engagement für die norwegisch-russische Freundschaft. Damals eine Ehre für ihn.
Eine Woche nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat er diese Auszeichnung an die Botschaft zurückgeschickt. „Ich konnte mir bis zum Schluss nicht vorstellen, dass Putin so dumm ist, und die Ukraine überfällt. Ich habe mich geirrt.“ Heute berichtet er, dass er damals sowohl die Menschenrechtsverletzungen als auch die massiven Umweltverschmutzungen in Russland nicht ignoriert habe. „Ich habe das in Gesprächen auch immer wieder thematisiert. Aber ich habe geglaubt, dass sich etwas ändern würde.“
Er erinnert sich an die Warnungen von Freunden zum Beispiel aus dem Baltikum, die wenig Verständnis für sein Engagement zeigten. Sie haben während der Besatzungszeit nach dem zweiten Weltkrieg ganz andere Erfahrungen mit Russland gemacht. Norwegen war nie von Russland besetzt und die beiden Staaten haben nie Krieg gegeneinander geführt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Kirkenes 1940 von den Deutschen besetzt und in den folgenden Jahren ein wichtiger Marine- und Luftwaffenstützpunkt für die deutsche Wehrmacht. Somit wurde Kirkenes einer der am häufigsten bombardierten Orte Europas - von sowjetischen Truppen, die die Stadt im Oktober 1944 befreiten. Ein Mahnmal in Kirkenes erinnert daran. Heute steht direkt daneben ein Transporter in ukrainischen Farben mit der Aufschrift „Stop War. Stop Putin“. „Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen“, lässt Rafaelsen keinen Zweifel an seinem Standpunkt. Das Leben in Kirkenes hat sich stark verändert – nicht nur für ihn.
Die „russlandfreundliche“ Zeit ist überall im Straßenbild noch zu sehen: Die Beschilderungen im öffentlichen Raum sind oft in norwegisch und russisch. „Kirkenes war eine russische Stadt in Norwegen“, beschreibt er die Zeit vor dem Krieg. Die Stimmung ist gekippt. Viele Menschen begegnen sich oft misstrauisch. Es gibt Russen, die ihren Wohnsitz schon vor dem Krieg nach Norwegen verlegt haben, es gibt Journalisten und Künstler, die Russland aufgrund von Putins Krieg verlassen haben und es gibt Menschen aus der Ukraine, die vor den Bomben Putins flohen. „Mit Menschen, die das Putinregime unterstützen oder den Krieg verharmlosen, will ich nichts mehr zu tun haben. Daran sind auch Freundschaften zerbrochen.“
Kirkenes ist durch die Sanktionen gegen Russland stark betroffen. Rafaelsen zeigt leere Industrieanlagen im Hafen, die zum Verkauf stehen. Betroffen sind sowohl Werften, die russische Fischereiboote reparierten, als Betriebe, die russischen Fisch für den europäischen Markt verarbeiteten. „Wir zahlen hier in Kirkenes einen hohen Preis für die Sanktionen“, gibt er zu Bedenken. „Trotzdem stehe ich komplett hinter den Sanktionen.“ Sorgen macht er sich allerdings über den Fortbestand der Kooperation zwischen Russland und Norwegen in der Barentssee. Noch konnte man sich zum Schutz der maritimen Ökosysteme auf gemeinsame Fischfangquoten einigen. Wie lange noch, ist unklar.
Die geopolitische Bedeutung von Kirkenes zeigt sich auch an dem zunehmenden Interesse Chinas an der kleinen Hafenstadt. Es wäre der erste westeuropäische Hafen für Schiffe aus Fernost, die über den nördlichen Seeweg kommen. Aufgrund Doch die norwegischen Sicherheitsbedenken sind groß. Auf der anderen Seite ist China bereits jetzt ein wichtiger Handelspartner für Norwegen. Vor allem Fisch ist beliebt in China.
Und dann wird Rafaelsen wieder patriotisch: „In Oslo wird nur jährlich der Friedensnobelpreis vergeben, aber wir hier in Kirkenes an der russischen Grenze sind die geopolitische Realität.“