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Aufgewachsen an der Grenze

 

Luosto ist ein kleines Dorf mit etwa 200 Einwohnern in Zentrallappland am Fuße des Nationalparks Pyhä-Luosto. Im Ort befindet sich ein kleines Skiresort. Zahlreiche Wanderwege starten von hier aus. Inka Piisilä hat dieses Dorf bewusst als Wohnort gewählt. Es liegt in der Mitte von ihrem Heimatort Salla an der russischen Grenze mit etwa 3500 Einwohnern und Rovaniemi, wo sie studiert.

 

Das Leben an der russischen Grenze hat ihr Leben geprägt. Eine Folge des Winterkrieges und des Fortsetzungskrieges war, dass Salla geteilt wurde. Etwa die Hälfte des Gemeindegebietes fielen im Zuge des Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion. Die finnische Bevölkerung musste das Gebiet verlassen. „Drei meiner vier Großeltern stammten aus der Osthälfte der Gemeinde Salla, die heute als „Alt-Salla“ bezeichnet wird. Sie wurden zunächst in unterschiedliche Regionen Finnland evakuiert und später siedelten sie sich im westlichen Teil der Gemeinde an.“

 

„In meiner Kindheit hatten Russland und die Grenze keinen direkten Einfluss auf mein Leben, aber die Russen als ‚Andere‘ waren durch die Umgebung und die Haltung der Menschen um mich herum spürbar. In meiner Jugendzeit begann ich mich für unser Nachbarland zu interessieren“, erinnert sich die 28-Jährige. „Ich wollte wissen, wer auf der anderen Seite der Grenze lebt. Ich lernte russisch in der Schule und konnte tatsächlich für einen kurzen Urlaub nach Moskau reisen.“

 

Bei ihrer Familie stieß dieses Interesse für Russland auf großes Unverständnis. „Der Hass auf Russen war tief in der lokalen Gesellschaft und im Alltagsleben verankert. Die Leute, die ich kannte, fuhren nur zum Tanken nach Russland. Das war das Einzige, was akzeptiert wurde.“ Inka erzählt auch von vielen Vorurteilen gegenüber Russland, die in ihrem Umfeld verbreitet waren. „Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass wenige Kilometer weiter nur böse Menschen leben.“

 

Während ihres Studiums „International relations“ in Rovaniemi beschäftigte sie sich viel mit Osteuropa, lernte weiter russisch und wollte unbedingt längere Zeit in diesem für sie immer noch unbekannten Land verbringen. Sie bewarb sich für ein Auslandssemester in Arkhangelsk im Nordwesten von Russland. Leider klappte es wegen Corona nicht. Dann bewarb sie sich für ein Praktikum im Finnischen Generalkonsulat in St. Petersburg. Der Krieg begann und sie konnte wieder nicht fahren.

 

Auch ihre Masterarbeit hängt mit ihren Erfahrungen in dem kleinen Ort an der russischen Grenze zusammen. Sie geht der Frage nach, ob Schulen in entlegenen Gebieten, die von Schließung bedroht sind, durch eine internationale Ausrichtung überleben können. Auf diese Fragestellung kam sie, da Schüler und Schülerinnen aus Russland seit 2007 die weiterführende Schule in Salla besuchen können. Möglich wurde dies durch die Öffnung der Grenze zu Russland etwa zehn Kilometer von Salla entfernt. Mit dieser Kooperation verfolgten die Schule und die Stadt mehrere Ziele: Die Zukunft der Schule sollte gesichert werden und die jungen Menschen aus Russland mit finnischem Schulabschluss sollten in Finnland studieren können.

 

Salla war Vorreiter, aber auch andere Schulen an der Ostgrenze Finnland mit ähnlichen Problemen haben ihre Schulen für junge Menschen aus Russland geöffnet und später auch für Menschen aus anderen Ländern. Starteten 2007 elf Schüler*innen aus Russland in Salla, so besuchten im Jahr 2024 neben 30 finnischen Schüler*innen, 30 junge Menschen aus Russland, zehn aus Myanmar und einer aus Belarus die Schule. Im Volksmund nennt man die Schule heute "Salla Border High School". In den letzten Jahren hat man das Schulprofil etwas geändert und die internationalen Schüler*innen kombinieren Schulbildung mit beruflicher Ausbildung und praktischer Arbeit. Inkas Recherchen haben ergeben, dass sich die internationalen Schüler*innen nicht nur positiv auf die Schulentwicklung auswirken, sondern auch auf die Region. Viele bleiben zum Arbeiten oder Studieren in Finnland, einige sogar in Salla.

 

Inka weiß nicht, wann sie eine Gelegenheit haben wird, das Land, an dessen Grenze sie aufgewachsen ist, näher kennenzulernen. „Für mich ist es wichtig, zwischen dem Land und den Menschen in dem Land zu unterscheiden.“ Auch wohin sie sich beruflich entwickeln möchte, ist noch unklar. Als sie mit dem Studium begann, hatte sie den Traum, grenzüberschreitend arbeiten zu können. Ob das was wird, weiß sie nicht. Ihre berufliche Perspektive steht auch im Zusammenhang mit der Wahl ihres zukünftigen Wohnortes. „Ich habe mit drei anderen Personen zusammen das Haus meiner Großeltern in Salla geerbt. Es steht leer und im Moment kümmern sich meine Tanten darum. Aber es kommt immer wieder die Frage, wann ich denn nach Salla komme und mich um das Haus kümmere.“ Luosto ist erst einmal ein Kompromiss für sie. „Ich kann nach Hause fahren und mich um Haus und Grundstück kümmern und ich kann an die Uni und zu meinen Freunden in Rovaniemi fahren.“ Der kleine Touristenort hat noch einen Vorteil: Sie kann nebenbei im Hotel arbeiten und Geld verdienen. Wenn sie ihre Masterarbeit abgegeben hat, möchte sie reisen und endlich ihr russisch anwenden, zum Beispiel in Kasachstan.