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Die Geschichte von Helli und Anselmi

 

Auf einem Waldparkplatz zwischen Kemijärvi und Salla an einem Denkmal, das an den Winterkrieg zwischen Finnland und Sowjetunion 1939 bis 1940 erinnert, treffe ich Niko Rytilahti, 28 Jahre, und Samuli Antilla 26 Jahre.

Niko möchte mir seine Geschichte erzählen. Sein Freund Samuli übersetzt. Niko ist in Salla, etwa zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt, geboren. Als er drei Jahre alt war, zog er mit seinen Eltern nach Rovaniemi. Doch die Ferien verbrachte er regelmäßig bei seinen Großeltern in Salla. Der Ort schrumpft und überaltert und so verbrachte er viel Zeit mit der älteren Generation. „Ich hörte deren Geschichten und war fasziniert. Ich wurde immer neugieriger und fragte immer mehr.“ Irgendwann hat er begonnen, diese Interviews aufzunehmen. Mittlerweile hat er 190 Interviews mit Menschen der Generation seiner Großeltern und Urgroßeltern aus Salla. Einige hat er bereits in Büchern veröffentlicht.  Aber Niko erzählt auch selbst gerne Geschichten. Am liebsten die von seiner Urgroßmutter Helli (1926-2017) und seinem Urgroßvater Anselmi (1917-1999). Erzählt hat sie ihm Helli immer wieder.

 

 

Helli ist 1926 in Alt-Salla geboren, in dem Teil der Gemeinde, der als Folge des Winterkrieges heute in Russland liegt. Im Alter von fünf Jahren wurde sie zur Waise. Sie lebte deshalb bei einer Pflegefamilie in einem kleinen Dorf nahe der heutigen Grenze. Während des Fortsetzungskrieges (1941 bis 1944) arbeitete Helli als Hausangestellte an verschiedenen Orten. In dieser Zeit lernte sie auch ihren zukünftigen Ehemann, Anselmi Aska, kennen.

 

Anselmi stammte aus der nordwestlichen Ecke von Salla, von dem abgelegenen Hof Aska. Er hatte bereits im Winterkrieg an der Nordfront gekämpft. Doch als im Juni 1941 der Fortsetzungskrieg ausbrach, wurde Anselmi an die Front in Karelien geschickt.

 

1944 hatte er zwei Wochen Urlaub und wollte nach Hause nach Lappland fahren, um Helli zu treffen. Doch im Juni startete die Sowjetunion unerwartet einen Großangriff an den finnischen Fronten. Anselmi sollte zurück an die Front, aber er zögerte. Er hatte einen Traum, dass der Krieg für Finnland schlecht ausgehen würde – und er wollte Helli sehen. Also bestieg er einen Zug in Richtung Front und ließ seine Papiere abstempeln, damit die offiziellen Unterlagen in Ordnung waren. Aber tatsächlich nahm Anselmi einen Zug nach Lappland und schaffte es nach Hause zum Aska-Hof.

 

Während des Urlaubs von Anselmi erhielt auch sein älterer Bruder Matti einen Einberufungsbescheid. Die Aussichten für den Krieg schienen düster, und die Brüder beschlossen, nicht an die Front zurückzukehren. Aber sie mussten etwas tun, damit die Behörden ihre Desertion nicht bemerkten. Also gingen die Brüder zum Bahnhof im Dorf Kursu, zeigten der Militärpolizei ihre Ausweise, stiegen in den Zug und verließen ihn heimlich an der nächsten Haltestelle. Sie schlugen sich durch die Wildnis und versteckten sich in einer Scheune in der Nähe des Hauses ihrer Familie. Von ihrem Versteck aus schrieb Anselmi einen Brief an Helli und bat sie, in die Scheune zu kommen und ihnen Essen zu bringen. Das war der Beginn von Anselmis und Hellis gemeinsamem Leben.

 

Dann begann der Lapplandkrieg (1944 bis 1945) zwischen Finnland und Deutschland. Die finnische Armee evakuierte die Bevölkerung und das Vieh. Später setzten die Deutschen die Evakuierung fort, bevor sie alles hinter sich verbrannten. Helli hatte Angst vor den deutschen Soldaten, und Anselmi fürchtete sich vor den finnischen Soldaten – also wollten sie gemeinsam fliehen.

 

Die Deutschen hatten Anselmi und Helli befohlen, das Vieh in Richtung der Evakuierungsroute zu treiben. Eine Gruppe deutscher Soldaten lief hinter ihnen her. In einer Kurve beschloss das junge Paar, über einen Sumpf in die Wildnis – weg von ihren deutschen Begleitern – zu fliehen. Die Soldaten versuchten zu folgen, kamen aber nicht weit, denn nur die Einheimischen wussten, wie man sich in diesen Sümpfen bewegte. Wer falsche Schritte machte, drohte zu versinken. Helli und Anselmi gelang es, eine kleine Waldhütte zu bauen. In diesem Versteck verbrachten sie den ganzen Winter über allein und ohne Kontakt zur Außenwelt. Sie überlebten, weil Anselmi als Sámi wusste, wie man in der Natur lebt. Aber sie hatten keine Informationen über den Verlauf des Krieges.

 

Bruder Matti verbrachte drei Wochen in einem deutschen Gefangenenlager in Rovaniemi, wurde aber schon während des Krieges entlassen. Nach dem Krieg lebte Matti in seinem Heimatdorf bei Salla und arbeitete als Rentierzüchter.

 

Nach dem Krieg wurde Anselmi wegen Desertion zum Verhör nach Kemijärvi vorgeladen. Doch die von der Sowjetunion nach Finnland entsandte Kontrollkommission hatte verfügt, dass ehemalige Frontdeserteure nicht mehr verfolgt oder bestraft werden sollten. Anselmi wurde freigelassen und konnte Helli heiraten. Ihr erstes Kind wurde 1945 geboren.

 

Diese Geschichte beruht allein auf den Erzählungen von Niko Rytilahti, so wie er sie von seiner Urgroßmutter gehört hat.