Värtsilä wirkt wie ausgestorben. Leerstehende Häuser und geschlossene Läden säumen die Straßen. Im Zentrum wartet ein großer Hotelkomplex auf Gäste. Hinter dem Ort beginnt die Grenzschutzzone, die nur mit Erlaubnis betreten werden darf. Entlang der Hügelkette ist ein Grenzschutzzaun zu erkennen. Einzelne Wachtürme sind zu sehen. „Das Dorf mit etwa 500 Einwohnern hat in den letzten Jahrzehnten stark von den offenen Grenzen profitiert. In Spitzenzeiten haben bis zu 1,3 Millionen Menschen pro Jahr diese Grenze passiert“, erklärt Mika Piiroinen. Jetzt ist alles mit Betonsperren und Stacheldraht abgeriegelt. Geschlossene Tankstellen, Restaurants und ein Informationsbüro mit jeweils großen Parkplätzen an der gut ausgebauten Straße nach Russland wirken wie Geister aus einer anderen Zeit am Straßenrand. Auch der Hotelbesitzer bestätigt, dass vor den Grenzschließungen ein großer Teil seiner Gäste aus Russland kam.
„Die Schließung der Grenze im Jahr 2023 war für Värtsilä ein Tiefschlag“, bringt Mika Piiroinen es auf den Punkt. „Die Wirtschaft in dem Ort und in der Region leidet stark.“ Er kennt die Entwicklung des Ortes sehr gut. Seine Familie lebt seit Generationen hier und betreibt Landwirtschaft. „Värtsilä war einst ein bedeutender Industriestandort in Karelien“, erklärt der 51-Jährige. Durch die Grenzziehung infolge der Kriege mit der Sowjetunion kamen zwei Drittel des Gemeindegebiets, darunter der Hauptort Värtsilä und die Industrieanlagen, an die Sowjetunion. Mika Piiroinen spricht in diesem Zusammenhang von „Stalins Daumen“. Er zeigt auf der Karte, dass der sonst gerade Grenzverlauf eine kleine Ausbuchtung aufweist. „Stalin wollte die Industrieanlagen.“
Nach 1945 stiegen die Einwohnerzahlen in Värtsilä aufgrund der Evakuierungen aus den „verlorenen Gebieten“ auf etwa 2000 Menschen an. Doch schon in den 1950er Jahren begann die kontinuierliche Abwanderung. Die verbleibenden Arbeitsplätze in der Land- und Forstwirtschaft boten nicht genügend Perspektiven Mika vermutet, dass dieser Bevölkerungsrückgang durch die geschlossenen Grenzen sogar noch steigen wird.
Er sitzt im lokalen Parlament, kennt die Sorgen und Nöte der Menschen und der Kommune sehr genau. Trotzdem trauert er der Grenzschließung nicht nach. Er spricht keineswegs begeistert von den 30 Jahren offenen Grenzen mit Russland. „Ich bin mit den Menschen nie warm geworden.“ Er ergänzt: „Die normalen Russen sind in Ordnung, aber diese reichen Russen, die hier zum Einkaufen und Urlaubmachen kamen, lagen mir gar nicht. Ich mag es nicht, wenn Menschen ihren Reichtum zur Schau stellen.“ Er spricht von hohem Alkoholkonsum und schlechtem Benehmen. Dabei hat er selbst nach der Grenzöffnung in Russland gearbeitet und den Straßenbau unterstützt. „Ständig gab es Probleme mit Korruption und Diebstahl. Wenn man dem Staat und der Politik vertraut, ist das schwierig zu akzeptieren.“ Er bezeichnet den NATO-Beitritt Finnlands als die beste Entscheidung. „Das hätte schon viel früher passieren können.“
Mika sieht trotzdem Perspektiven für Värtsilä, und zwar im Naturtourismus. „Aufgrund der Grenze ist es hier so ruhig, dass sich eine einzigartige Vogelwelt entwickelt hat. Er erzählt von Seen mit Trinkwasserqualität. „Dort kann man angeln und Vögel beobachten, die es sonst kaum in Finnland gibt.“ Ornithologen seien begeistert. „Das Image des finnischen Ostens ist im Land nicht besonders gut. Alle denken, dass wir weit weg von allem sind und die Region nichts zu bieten hat. Vielleicht würden uns Marketingkenntnisse helfen, die Region bekannter zu machen.“ Und noch etwas spricht für die Region: „Es ist der sicherste Ort auf der Erde, denn wir haben 150 Personen vom finnischen Grenzschutz hier.“ Als Bedrohung sieht er diese Grenze nicht. „Es war die meiste Zeit eine geschlossene Grenze, und jetzt sind wir wieder beim Normalzustand angelangt.“
Trotz des Bevölkerungsrückgangs gibt es auch kulturelles Leben in dem kleinen Dorf: An einem Abend füllt sich plötzlich ein großer Parkplatz vor einem ehemaligen landwirtschaftlichen Gebäude in der Ortsmitte. Grund ist das Sommertheater einer lokalen Laienspielgruppe. In der Pause wird ein Catering angeboten, nach dem Schlussapplaus leer sich der Parkplatz wieder und es ist wieder ruhig in Värtsilä.