Auf dem EuroVelo 13, auch bekannt als „Iron Curtain Trail”, gibt es nicht sehr viele Radfahrerinnen und Radfahrer. Einige sind Richtung Nordkap unterwegs, doch an der finnisch-russischen Grenze, wo der „Iron Curtain Trail” verläuft, ist es einsam. Nach etwa der Hälfte der Strecke treffe ich in einem kleinen Grenzmuseum auf eine Radfahrerin: Kira Strelow (27) ist ebenfalls auf dem Iron Curtain Trail unterwegs. Sie ist Anfang Juni in Kirkenes gestartet und plant, Ende Oktober am Schwarzen Meer anzukommen. Sie zeltet überwiegend wild oder übernachtet in Schutzhütten. Kira erzählt, dass sie immer wieder auf Grenzen und Mauern stößt – in sich selbst und in der Welt –, die sie beschäftigen. Ob der Iron Curtain Trail ihr Antworten geben kann? Auf schier endlosen Etappen in beeindruckender Natur gibt es viel Zeit zum Nachdenken. Es ist nicht immer Genussradeln und vor allem kein Premium-Radweg. Die Infrastruktur ist sehr mager. Nach etwa 2000 Kilometern Iron Curtain Trail treffen wir uns in Helsinki zu einem Gespräch.
Kira hat einen thüringischen Vater, der nach der Wende ins Rheinland zog. Ihre Mutter ist Niederländerin. Die Eltern trennten sich bald nach Kiras Geburt, sodass sie zwischen Holland, dem Rheinland und Thüringen aufwuchs. Sie reiste viel mit dem Zug – von Holland zu ihrem Vater nach Bonn und zu ihrer Oma nach Saalfeld. „Irgendwann merkte ich als Kind, dass ich immer zwischen zwei Ländern und Sprachen pendelte. Ich lernte, dass ich eine andere Sprache benutzen musste, wenn ich auf der jeweils anderen Seite der Grenze war.“ Und viele Jahre später erkannte sie, dass es noch eine andere Grenze gab, die ihr Leben prägte. Sie sah Kinderzeichnungen und Fotos ihres Vaters aus seiner DDR-Jugend. „Ich realisierte, dass er in einem anderen Land und in einem anderen System aufgewachsen ist. Und so bekam meine deutsch-niederländische Herkunft noch eine andere Dimension.“
Während ihrer Schulzeit in den Niederlanden spielte die deutsch-deutsche Geschichte nur eine untergeordnete Rolle. In ihrer Familie wurden alte Geschichten kaum erzählt. „Aber ich wurde neugierig und wollte immer mehr wissen.“
„Seit meiner Kindheit habe ich mit meinem Vater regelmäßig mehrtägige Radtouren unternommen, sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern. „Dieses intensive Reisen habe ich immer sehr genossen, und es hat mich auch geprägt.“ So reifte in ihr der Gedanke, sich selbst auf Spurensuche zu begeben. „Ich wollte mich intensiver damit beschäftigen, was es mit der deutschen Teilung und der Teilung Europas auf sich hatte.“ Sie berichtet von vielen kleinen Puzzleteilen, die dazu beitrugen, dass sie heute auf dem Iron Curtain Trail unterwegs ist. Entscheidend war unter anderem eine Fotoausstellung in Frankreich im Rahmen eines Fotografie-Festivals zum Thema „Mauern und Grenzen“. „Das hat mich sehr berührt und beeindruckt.“ Auch in dieser Ausstellung wurde die Teilung Deutschlands als Prototyp für andere Mauern in Europa thematisiert. Was machen Grenzen und Mauern mit Menschen? Sind sie ein Konstrukt von Macht? Was bedeutet es für Familien und Menschen, wenn sie durch Grenzen getrennt werden?
„Ich kann mit diesen schweren Themen oft nicht gut umgehen. Da sie mich persönlich sehr mitnehmen, schaue ich gerne weg oder blende diese Themen aus.“ Dann wird sie philosophisch: „Vielleicht hängt es auch mit meinen eigenen Mauern und Grenzen in meinem Kopf zusammen?“ Die Fahrradtour ist für mich ein guter Weg, mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. „Ich möchte diese Geschichte der Teilung Europas und ihre Folgen verstehen. Und das kann ich am besten, wenn ich mich dem auch emotional aussetze.“ Deshalb wählt Kira nicht Bücher, sondern Fahrrad und Zelt und begibt sich direkt an die Orte. In Helsinki, am Ende des finnischen Abschnitts, sagt sie: „Es macht mich einfach nur traurig, wenn ich sehe, wie hier neue Zäune gebaut und Grenzübergänge geschlossen werden, während ich auf leeren Straßen radle, weil es keinen Grenzverkehr mehr gibt. Es scheint, als würde sich die Geschichte, über die ich in Museen lese, wiederholen."
Ein Grund für die Wahl des EuroVelo 13 war für sie, dass dieser Radweg auch für grenzüberschreitende Verbindungen steht. Er galt als Hoffnung für eine Welt mit weniger Mauern und Grenzen. Das Gegenteil ist eingetreten. Aber die Radtour ist nicht umsonst. Es gilt, die eigenen psychischen und physischen Grenzen zu testen, die eigenen Mauern im Kopf zu erkennen und sie gegebenenfalls einzureißen. Außerdem muss man die Balance halten zwischen der Freiheit, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein und dort zu stoppen, wo es einem gefällt, und den Zwängen, die Strecke im Blick zu behalten, den nächsten Schlafplatz zu finden und sich um die eigene Essensversorgung zu kümmern.
Kira hat einen Master in Astronomie. Das grenzenlose Universum ist ihr Thema. „Aber auch in der Wissenschaft geht es immer um Grenzen“, erläutert sie. „Man ist ständig auf der Suche nach den Grenzen: Wie weit kann man zum Urknall zurückblicken? Wie klein kann man ferne Planeten und Sterne betrachten? Für mich wird es aber erst richtig interessant, wenn man Verbindungen über Grenzen hinweg eingeht, etwa zwischen Fachgebieten oder auch zwischen Kunst und Wissenschaft.“ Eines ist zumindest gewiss: „Von der Astronomie aus gesehen ist die Erde grenzenlos – eine kleine blaue Kugel im Weltall, auf der wir alle gemeinsam leben. Es bleibt spannend, welche Antworten Kira gefunden hat, wenn sie nach weiteren 8.000 Kilometern und 17 Ländern am Schwarzen Meer angekommen ist.