· 

Europas russischste Stadt im Fokus der Weltpolitik

Narva ist die östlichste Stadt Estlands und der Europäischen Union. Für 98 Prozent der Bevölkerung ist Russisch die Muttersprache. Narva hat die höchste Arbeitslosenrate und das niedrigste Durchschnittseinkommen des Landes. „Narva wurde von Estland vergessen“, sagt der Lokaljournalist Aleksei Ivanov während eines Rundgangs durch seine Stadt. „Das änderte sich 2014 mit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine.“ Plötzlich rückte Narva in das Zentrum der Weltpolitik. Der Grund: Nur der Fluss Narva trennt Russland von Estland, von der EU, vom Schengen-Raum und vom NATO-Gebiet. Immer wieder wurde das Szenario beschrieben, dass Russland das NATO-Gebiet über Narva angreifen könnte. „Plötzlich interessierten sich Journalist*innen aus aller Welt für die russischste Stadt außerhalb Russlands“, erklärt Aleksei. Er lächelt über dieses Szenario und fragt: „Warum sollte Russland gerade über Narva angreifen, wo es doch nur eine Brücke gibt?“

 

Hoch über dem Fluss erheben sich zwei mittelalterliche Burgen – eine in der estnischen Stadt Narva und die andere in der russischen Stadt Ivangorod.  Die Freundschaftsbrücke verbindet die beiden Zwillingsstädte. Sie ist jedoch komplett vergittert und eingezäunt. Die Zeiten der Freundschaft sind für Estland vorbei. Der Grenzübergang in Narva kann heute nur noch zu Fuß überquert werden. Alkesei erklärt, dass die Russen den Grenzübergang vor etwa zwei Jahren für den Autoverkehr gesperrt haben, um Baumaßnahmen durchzuführen. Ob und wann wieder Autos über die Brücke rollen können, weiß niemand. Auf estnischer Seite bildet sich eine über 100 Meter lange Menschenschlange vor der Grenzabfertigung. „Das liegt an den aufwendigen Kontrollen der estnischen Grenzbehörden, die hier überprüfen, ob die Sanktionen gegen Russland eingehalten werden.“ Laut Aleksei dauert es oft mehrere Stunden, manchmal sechs, manchmal acht, bis die Menschen mit ihren Rollkoffern nach Russland weiterreisen können. Einige haben Regenschirme gegen die Sonne dabei, andere sitzen auf eigenen Klappstühlen. Kinder spielen auf der benachbarten Grünfläche.  Von hier aus sind es nur noch etwa 150 Kilometer in die russische Metropole St. Petersburg.

 

Narva ist ein etwas trister Ort. Graue, teilweise etwas heruntergekommene Wohnblöcke prägen das Stadtbild. Ganz Straßenzüge bestehen aus den sogenannten „Chruschtschowkas“, Gebäuden aus grauen, unverputzten Ziegelsteinen. Sie wurden in den 1950er Jahren in der Ära Nikita Chruschtschows errichtet, um schnell dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. Narva wurde 1944 durch sowjetische Luftangriffe fast vollständig zerstört. Teilweise erhalten geblieben ist die im 19. Jahrhundert gegründete Textilfabrik Kreenholm. Mit über 10.000 Mitarbeitenden galt sie als die größte Textilfabrik in Europa und im Russischen Reich. Nach dem Krieg nahm die Fabrik ihre Arbeit wieder auf. Menschen aus ganz Russland siedelten sich in Narva an, denn hier gab es Arbeitsplätze und die Chance auf ein besseres Leben in der Sowjetunion.

 

So kam auch Alekseis Großmutter als Textilingenieurin aus dem Kaukasus nach Narva. Aleksei ist hier geboren, aufgewachsen und hat den Großteil seines Lebens in Narva verbracht. Nach Schule, Studium und Armeezeit lebte er einige Jahre im Ausland, kehrte jedoch 2020 während der Pandemie zurück, um sich um seine Oma zu kümmern.  Heute lebt er aus Überzeugung und mit Begeisterung in der östlichsten Stadt der EU. „Ich genieße die Ruhe und das entspannte und einfache Leben. Außerdem sind die Lebenshaltungskosten niedriger als in anderen estnischen Städten.“ Aleksei mag seine Stadt und ihre Gebäude. Selbst das zwölfstöckige Hochhaus im Stil des Brutalismus aus dem Jahr 1969, das sich mitten in der Stadt befindet, gefällt ihm. Auf dem Dach des Hauses befindet sich ein Wassertank aus Beton, der wie ein brutales Kunstwerk wirkt. „Dieser Wassertank wurde nie genutzt, da die Wasserversorgung bei der Fertigstellung anders organisiert wurde“, erklärt Aleksei mit einem Schmunzeln.  Aber ein Narva ohne dieses Gebäude ist für ihn undenkbar. Er hat sein Büro in Narvas einzigem „Hochhaus“.

 

In der Stadt hat sich in den letzten Jahren vieles verändert. Die Grenzschließungen und Sanktionen gegen Russland treffen Narva hart. „Narva war für Europa das Tor zu Russland und für Russland das Tor zu Europa“, erklärt Aleksei. Seit der Unabhängigkeit Estlands und dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 boomte das Geschäft mit Russland.

 

„Es gab hier viele russische Touristen. Es wurden Hotels gebaut, die Läden waren voll und der Handel blühte“, erinnert er sich an die Zeit vor 2022, als Russen gerne hierherkamen, da sie in Europa waren, aber doch alle ihre Sprache sprachen.

 

Diese Zeiten sind vorbei. Eine Kooperation mit Russland kommt für den estnischen Staat nicht infrage. Das Trauma des estnischen Volkes aufgrund der beiden Okkupationen durch die Sowjetunion (1940 bis 1941 und 1944 bis 1991) ist fest im Gedächtnis verankert. Es war eine vollständig kontrollierte Gesellschaft. Verhaftungen, Hinrichtungen und Deportationen bestimmten das Leben Tausender Esten. Daran wird in zahlreichen Museen und mit großen Monumenten erinnert.

 

Aleksei stellt klar, dass er die Sanktionen gegenüber Russland als Aggressor für gerechtfertigt hält. Er hat jedoch kein Verständnis dafür, dass Russen, die in Estland leben, für den Krieg verantwortlich gemacht werden. „Uns hat niemand gefragt, ob wir den Krieg befürworten oder wollen.“

 

Ich fühle mich zunächst als Mensch aus Narva, als Narvaianer, und dann als Bürger Estlands. Aber meine spirituellen und kulturellen Wurzeln sind russisch.“ Russen haben es schwer in Estland, und es wird ihnen auch nicht leicht gemacht, Teil der estnischen Gesellschaft zu werden, erklärt Aleksei. „Nur etwa die Hälfte der Menschen in Narva hat einen estnischen Pass, die anderen sind entweder russische Staatsbürger oder staatenlos.“

 

Der estnische Staat erlässt immer mehr Gesetze, die der russischstämmigen Bevölkerung das Gefühl geben, für den Krieg verantwortlich zu sein. Ein sehr umstrittenes Thema ist die Regelung, dass sukzessive in allen Jahrgangsstufen an estnischen Schulen Estnisch die Unterrichtssprache ist. Noch gibt es viele russische Schulen, die zwar nach estnischem Lehrplan, aber auf Russisch unterrichten. Bis 2032 soll damit Schluss sein.

 

Laut Aleksei spielt es keine Rolle, welche Meinung die russische Bevölkerung zur Weltpolitik hat. „Als Russen beteiligen wir uns nicht mehr an diesen Diskussionen. Jede Meinung wäre falsch oder würde falsch interpretiert werden.“ Aleksei möchte den deutschen Soldatenfriedhof am Stadtrand von Narva zeigen. Die deutsche Wehrmacht legte den Friedhof im Jahr 1943 an und bestattete dort etwa 4.000 Soldaten. 1945 wurde das Gräberfeld eingeebnet. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge baute das Gelände anschließend als zentrale Ruhestätte für die Toten der Narva-Front aus. Mittlerweile sind hier etwa 15.000 deutsche Soldaten bestattet, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren haben. „Sie haben es verdient, dass man hier an sie denkt“, kommentiert Aleksei.

 

Für die Zukunft Narvas und die Menschen in Narva wünscht er sich, „dass man uns lässt, wie wir sind“. „Niemand muss uns erzählen, wie wir zu sein haben oder wie wir estnischer werden sollen.“ Er weist darauf hin, dass sich die Menschen in Narva auch an der Unabhängigkeitsbewegung Anfang der 1990er Jahre beteiligt haben. „Die Menschen in Narva schätzen, dass sie in Europa leben, aber sie haben eben ihre Wurzeln in Russland.“

 

Vielleicht ist Narva doch gar nicht so ein trister Ort. Alte Industriearchitektur bietet Raum für große Träume: Die alten Fabrikgebäude könnten für Kultur genutzt werden. Kleine Institutionen oder Unternehmen entdecken den Charme der ehemaligen Villen der Fabrikbesitzer. Die Uferpromenade lockt Menschen zum Spaziergang. Einzelne Angler stehen am Ufer. Menschen baden in einem Seitenarm der Narva. Zur Ostsee mit seinem endlosen Sandstrand sind es nur 15 Kilometer. „Es gab immer eine Zukunft für Narva. Und die wird es auch diesmal wieder geben“, ist Aleksei überzeugt. Wir sind in dem Stadium, dass wir sagen „irgendwann wird es wieder besser in Narva“.