In Estlands Schulen soll in Zukunft Estnisch und nicht mehr Russisch die Unterrichtssprache sein. Besonders betroffen von diesem Gesetz sind die Menschen in Narva, einer Stadt im Nordosten Estlands direkt an der russischen Grenze. Für 98 Prozent der Einwohner ist Russisch die Muttersprache. Denis Bjorkland, Mitarbeiter der Stadtverwaltung in Narva, betont, dass alle Kinder und Jugendlichen in Estland Estnisch sprechen müssen, auch in Narva. „Aber diese Reform hätte schon vor 20 Jahren kommen müssen”, kritisiert er den Zeitpunkt der Schulreform. „Die Regierung trifft Entscheidungen, die aussehen, als ob sie die russische Bevölkerung bestrafen will.“ Außerdem seien mehrere Schülergenerationen verloren gegangen, die die Schule ohne ausreichende Kenntnisse der estnischen Sprache verlassen hätten.
Wie das neue Gesetz in Narva umgesetzt werden soll, weiß Bjorkland nicht. „Es gibt gar nicht genügend Lehrkräfte, die Estnisch sprechen.“ Eigentlich bräuchte die Stadt mehr Esten, die nicht nur als Touristen nach Narva kommen, sondern hier leben. „Aber es ist schwer, sie hierher zu bekommen. Die wenigen jungen Esten, die hier aufwachsen, verlassen die Stadt, sodass die estnische Bevölkerung weiter zurückgeht. „Selbst Geld zieht nicht“, sagt Bjorkland. „In Narva erhalten Lehrkräfte, auch Quereinsteiger, landesweit das höchste Einkommen – und trotzdem kommen sie nicht.“ Doch wie soll Estnisch als Unterrichtssprache in Narva funktionieren, wenn es keine Lehrkräfte gibt?
Bjorkland erklärt, dass es in den letzten Jahren zu viele Änderungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine gab, die vornehmlich die russische Bevölkerung treffen. Er zählt auf: Jetzt werden sowjetische Monumente aus dem Stadtbild entfernt, Straßen, die Namen von sowjetischen Helden hatten, wurden umbenannt, die orthodoxe Kirche soll sich vom Moskauer Patriachat lösen, der 9. Mai, der Feiertag in der Sowjetunion, der an den Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg erinnert, darf in Estland nicht mehr gefeiert werden.
„Ich verstehe jede einzelne Maßnahme“, so Bjorkland. „Aber die Kommunikation ist so schlecht, dass hier in Narva bei den Menschen nur ankommt, dass sie für den Krieg Russlands bestraft werden, obwohl sie damit nichts zu tun haben.“
Zwar gab es in den letzten Jahrzehnten viele Versuche, die russische Bevölkerung in die estnische Gesellschaft zu integrieren. Dazu gehörten auch Sprachkurse. „Aber in Narva haben die Menschen keine Gelegenheit, die Sprache anzuwenden. Hier wird überall Russisch gesprochen, sodass die Programme nicht sehr erfolgreich waren.“
Bjorkland nennt das estnische Staatsbürgerschaftsrecht als einen weiteren Grund für die gescheiterte Integration der russischen Bevölkerung. Im Jahr 1991, nach der Unabhängigkeit Estlands, erhielten nur diejenigen die estnische Staatsbürgerschaft, die bereits vor der sowjetischen Besetzung im Jahr 1940 estnische Staatsbürger waren. Diejenigen, die während der Sowjetzeit nach Estland einwanderten, erhielten diese nicht automatisch. Bjorkland erklärt, dass die russische Bevölkerung, die seit Jahrzehnten hier lebt, einen estnischen Pass bekommen könnte. „Aber man muss sich darum kümmern, es ist aufwändig, und der estnische Staat macht es den Menschen nicht einfach. Viele wollen den Staatsbürgertest nicht ablegen. Selbst wenn die Eltern bereits hier geboren waren, bekamen die Kinder nicht automatisch einen estnischen Pass. Das hat sich jetzt geändert. Alle Kinder bekommen jetzt bei der Geburt den estnischen Pass.“ In Narva hat etwa die Hälfte der Bevölkerung einen estnischen Pass, 35 Prozent einen russischen Pass und etwa 14 Prozent einen sogenannten Grauen Pass. Das bedeutet, dass sie als staatenlos gelten.
Dadurch ist die russische Bevölkerung in den demokratischen Gremien nicht oder nur unzureichend vertreten, da sie gar nicht oder nur eingeschränkt wählen darf. „Für Narva heißt das: Nur knapp die Hälfte der Einwohner darf das Stadtparlament wählen, das dann aber alle Menschen in Narva vertreten soll.“ Das Wahlrecht für Menschen ohne estnischen Pass wurde weiter eingeschränkt, so dass bei den kommenden Stadtratswahlen in Narva etwa 64 Prozent der Menschen wählen dürfen, bei den nächsten Stadtratswahlen werden es nur noch 51 Prozent sein. Ohne estnischen Pass können sich Menschen auch nicht zur Wahl für politische Ämter stellen. „Für das Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen wäre es aber wichtig, dass sich auch die russische Bevölkerung an den demokratischen Prozessen beteiligen kann.“
Bjorkland sieht die unterschiedlichen Sichtweisen der Esten und Russen auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts als großen Konflikt. „Für die russische Bevölkerung ist der Sieg über Nazi-Deutschland angesichts von mehr als 20 Millionen Kriegstoten wichtig. Für die estnische Bevölkerung gelten Nazi-Deutschland und die Sowjetunion hingegen als Besatzer. Aber eine öffentliche Diskussion über diese unterschiedlichen Geschichtsbilder existiert tragischerweise nicht“, so der Historiker. Manchmal macht er sich Sorgen, wie lange die russische Bevölkerung in Narva die Entscheidungen des estnischen Staates, die sich gegen Russen richten, noch akzeptiert. „Ich hoffe, dass es nicht irgendwann zu Unruhen kommt.“
Die Situation ist besonders kritisch, da der Alltag für die Menschen in Narva seit Kriegsbeginn schwieriger geworden ist. „Durch die Grenzschließung haben wir etwa 50 Prozent weniger Touristen in Narva. Die Läden in der Stadt verzeichnen Umsatzrückgänge von etwa 30 Prozent. Gleichzeitig steigen die Preise, Steuern und die Lebenshaltungskosten.“
Und so könnten die langen Schlangen am Grenzübergang am zentralen Petersplatz in Narva auch als Bestrafung der russischen Bevölkerung interpretiert werden. Die Menschen wollen vielleicht ihre Familien und Freunde besuchen. Das wird ihnen nicht leicht gemacht. Für das stundenlange Warten gibt es keine Sitzgelegenheiten und keinen Schutz vor Regen oder Sonne.