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In der Kulturhauptstadt der finno-ugrischen Völker

 

Narva ist nicht nur eine russische Stadt, sondern auch ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen. Immer wieder kamen durch Migration neue Menschen in die Stadt bzw. ganze Völker wanderten in Regionen mit besseren Lebensbedingungen hin und her. Überall hinterließen sie Spuren und beeinflussten die jeweilige Kultur. „Es gibt viele Menschen mit finno-ugrischen Wurzeln in Narva, aber alle denken, sie seien Russen. Manche wissen nicht einmal, woher ihre Vorfahren stammen“, sagt Ekaterina Kuznetsova im Kulturzentrum Ingria in Narva.

 

Für den Verein ist 2025 ein besonderes Jahr, denn Narva ist derzeit Kulturhauptstadt der finno-ugrischen Völker. Dies ist eine Initiative, um die Vielfalt der Sprachen und Kulturen zu fördern und zu erhalten. Einige Sprachen sind vom Aussterben bedroht. Einige Völker sind als indigen anerkannt. „Das ist eine gute Gelegenheit, etwas über die eigene Biografie und die Herkunft der Familie herauszufinden“, so die 50-Jährige. Sie ist Hauptorganisatorin des Programms von „Finno-ugrische Kulturhauptstadt Narva 2025” und Leiterin des Kulturzentrums Ingria in Narva.

 

Die finno-ugrischen Völker gehören zu einer Sprachfamilie. Das Finno-Ugrische ist ein Hauptzweig der uralischen Sprachfamilie. Zu den bekanntesten finno-ugrischen Völkern zählen Finnen, Esten und Ungarn. Aber auch viele kleine Völker im Ostseeraum wie Karelier, Wepsen, Woten, Ingrier/Ischoren und Seto zählen dazu. Auch die Sami gehören zur gleichen Sprachfamilie.

 

Im Laufe des Jahres gibt es in Narva viele Veranstaltungen zur Kultur der einzelnen Völker. „Unsere Traditionen, Sprachen und Kulturen ähneln sich, aber wir haben auch alle unsere Besonderheiten“, erklärt Ekaterina. „Und die wollen wir herausarbeiten und zeigen.“ An diesem Nachmittag kommen im Kulturzentrum Frauen zusammen, die kleine Snacks und verschiedene Kräuter mitbringen. Sie präsentieren ihre kleinen Schätze und geben Erklärungen dazu ab. Die achtjährige Diana zeigt stolz ihre Kekse, die sie mit ihrer Mutter gebacken und mit verschiedenen Wiesenblumen dekoriert hat. Es gibt eingelegte Ebereschen und junge Kiefernzapfen in Zucker. Die Frauen reichen Dosen mit Teekräutern herum, riechen daran und kommentieren. Auf dem Tisch stehen mehrere Kannen mit verschiedenen Tees aus selbst gesammelten Kräutern. Ekaterina erklärt, dass diese Treffen immer unter einem anderen Motto stehen. „Mal beschäftigen wir uns mit Sprache, mal mit Musik, mal mit Handarbeiten oder mit traditioneller Kleidung.“ Im Festjahr gibt es viele öffentliche Veranstaltungen, bei denen sich die einzelnen Volksgruppen präsentieren können. „Danach gibt es immer wieder Menschen, die dadurch inspiriert werden und nach ihren eigenen Wurzeln suchen. Viele erinnern sich daran, dass sie bestimmte Lieder von ihren Großeltern gehört haben oder dass bestimmte Gerichte auf den Tisch kamen, die auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe hindeuten.“

 

Ekaterina betont, dass es in ihrem Engagement nicht darum geht, sich von anderen abzugrenzen, sondern die verschiedenen Traditionen als Schatz zu betrachten, den man hüten und mit anderen teilen kann, um sie zu bereichern.

 

Ekaterina Kuznetsova selbst gehört zu dem Volk der Woten, einem sehr kleinen Volk, das mit den Esten verwandt ist. Ihre Großeltern lebten östlich des Narva-Flusses. „Alle in unserer Familie waren Künstler, und wir zogen gemeinsam nach St. Petersburg. Dort bin ich auch aufgewachsen.“  In der Sowjetunion sprach man nicht über seine ethnischen Wurzeln. „So sprach ich als Kind Russisch, erinnere mich aber daran, dass meine Großmutter zu Hause eine andere Sprache sprach und keine russischen Lieder sang.“ Erst als die Sowjetunion zusammenbrach, begann sie, ihre Wurzeln zu erforschen. „Es gab das Dorf Luutsa in Russland nordöstlich von Narva, in dem diese Sprache überlebt hat. Dorthin reiste ich immer wieder und lernte so die Sprache und Kultur meiner Großmutter kennen.“ „Die Künstlerin war Anfang der 2000er Jahre gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung am Aufbau eines Museums in diesem Dorf beteiligt. Sie erzählt von einem regen Austausch mit Estland über die finno-ugrischen Völker und die Kultur der Woten.  Als Musikerin trat sie auf Festivals auf und präsentierte traditionelle Musik der Woten. Im Jahr 2010 gestaltete sie einen Teil einer Ausstellung in Narva über ihr Volk.  Später arbeitete sie für das Museum in Narva. "Zu dieser Zeit reiste ich oft zwischen St. Petersburg und Narva hin und her. Die Arbeit wurde immer umfangreicher und wir zogen ganz nach Narva."

 

Bis zum russischen Angriffskrieg haben wir viel mit Museen und den Menschen in den russischen Dörfern zusammengearbeitet, die die alte Kultur noch pflegen. Das ist alles vorbei.  Dafür hat sie jetzt ihren eigenen YouTube-Kanal, auf dem sie Online-Sprachkurse in wotischer Sprache für Kinder anbietet. Gibt es noch andere Sachen?

 

Das Kulturzentrum ist mit bunten Flaggen geschmückt. Ekaterina zeigt unter anderem die historische Flagge von Ingermanland aus dem Jahr 1919. Durch das Kreuz wird die Verbundenheit zwischen Schweden und  Ingermanland deutlich. Die Flagge der Woten ist vergleichsweise neu. Sie stammt aus dem Jahr 2002 und weist mit ihren blauen Dreiecken darauf hin, dass das Land der Woten in dem Gebiet zwischen dem Pskower See und dem Finnischen Meerbusen liegt. Das rote Kreuz steht für die Ewigkeit und erinnert an die Verbindung zwischen den Generationen und den Vorfahren.

 

„Die Flagge von Ingermanland war auch eine Flagge gegen die Sowjetdiktatur. Am Anfang nutzten wir sie alle. Aber dann begannen wir gegen den Bau eines Hafens in Ust-Luga zu kämpfen, für den das traditionelle wotische Dorf Luutsa zerstört werden sollte. Dafür gründeten wir unseren wotischen Kulturverein und entwarfen unsere eigene Flagge."

 

Nach Finnland, Estland, Russland und Ungarn wird im Jahr 2026 erstmals eine Stadt in den USA die Kulturhauptstadt der finno-ugrischen Völker sein: Hancock in Michigan gilt als die Hauptstadt der finnisch-amerikanischen Kultur mit verschiedenen Festen zum finnischen Kulturerbe.