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Estnische Wildnis statt Saatse-Stiefel

 

Wer einmal kurz ohne Visum nach Russland reisen möchte, kann das in Estland tun. Bei Saatse im Südosten des Landes führt die estnische Landstraße zweimal über russisches Gebiet: einmal 30 Meter und einmal etwa einen Kilometer. Diese Grenzausbuchtung wird „Saatse-Stiefel” genannt.

 

Es gibt eine Vereinbarung zwischen Estland und Russland, die die Nutzung dieser Straße von estnischer Seite aus erlaubt. Allerdings darf man nicht anhalten, aussteigen und einen Fuß auf russisches Gebiet setzen. Die Meinungen, ob man diese Straße nutzen sollte, gehen weit auseinander und reichen von „auf keinen Fall“ bis „gar kein Problem“.

 

Um 13 Uhr habe ich einen Termin bei den Grenzbehörden in Saatse. Bei der Routenplanung von Tartu nach Saatse sehe ich, dass sowohl Komoot als auch Google Maps mich durch diese beiden russischen Gebiete führen. Und was mache ich jetzt? Immerhin habe ich ja kein Auto, sondern ein Fahrrad. Unschlüssig schreibe ich den Grenztruppen. Die klare Antwort lautet: „Erlaubt. Wir empfehlen es jedoch nicht und wenn etwas passiert, können wir nicht helfen.“

 

Brauche ich den Nervenkitzel, nur um kurz mit dem Fahrrad nach Russland zu fahren? Fotos kann ich ohnehin nicht machen. Ich entscheide mich, einen Umweg in Kauf zu nehmen, und plane die Route neu, sodass ich kein russisches Gebiet befahren muss.

 

 Es sind über 100 Kilometer von Tartu bis Saatse. Also starte ich morgens um 6 Uhr ohne Frühstück, dafür aber bei wunderbarem Morgenlicht. Die Straßen sind noch leer und führen durch wunderschöne Landschaften. Ich komme gut voran. Um 9 Uhr bekomme ich tatsächlich einen Kaffee und ein Stück Kuchen. Ich komme an alten Herrenhäusern vorbei. Zwei davon schaue ich mir an. Eines ist restauriert und von einem riesigen Park umgeben. Das andere ist halb verfallen und wartet noch auf eine Nutzung. Ich bin gut in der Zeit und werde sogar laut Plan früher ankommen. Aber das ist ja auch gut. Dann kann ich mich vor meinem Termin noch etwas abkühlen. Denn es ist mittlerweile sehr heiß.

 

Plötzlich zeigt mein Navi etwa 15 km vor dem Ziel an, dass ich von der Hauptstraße abbiegen soll, zunächst in einen Schotterweg. Das ist kein Problem, solche Wege kenne ich und bin sie auch schon über weite Strecken gefahren. Dann aber: wieder abbiegen, diesmal auf einen Waldweg. Okay. Geht auch noch. Doch dann wird dieser stellenweise zum Sandweg, es geht Hügel rauf und runter, über Wurzeln, rechte Spur, linke Spur – eigentlich bin ich immer auf der falschen. Ich kämpfe mich einen Berg hoch und schaffe es kaum, mein Fahrrad durch den Sand zu schieben. Dann komme ich auf eine riesige Freifläche. Es ist heiß und weit und breit ist kein Schatten zu sehen. Es ist ein bisschen unheimlich, denn ich erkenne, dass hier komplett die Vegetation fehlt. „Oh je, bin ich vielleicht durch den Wald nach Russland gefahren?“ Eine Infotafel klärt mich auf: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Gelände für Schießübungen genutzt. Es wurde „Sahara von Setumaa“ genannt. Okay. Weiter. Mir ist schon klar, dass ich nicht pünktlich zu meinem Termin kommen werde. Trotzdem weiter. Umkehren ergibt jetzt auch keinen Sinn mehr. Von der „sandigen Hochfläche“ aus geht es in vielen Kurven wieder über Waldwege den Wald hinunter in eine Senke. Hier steht ein Auto, in dem zwei Menschen sitzen. Mein Weg führt durch eine Art Furt, also eine bestimmt zehn Meter lange und fast genauso breite Pfütze. Ringsherum ist Sumpf. Einfach durchfahren geht nicht. Ich spreche die beiden Menschen an. Der Mann sagt nichts, die Frau redet aufgeregt abwechselnd Russisch und Estnisch. Es gibt kein Netz, das heißt, alle Übersetzungsgeräte funktionieren nicht. Die Frau redet ununterbrochen, gestikuliert wild und zeigt dabei immer wieder in verschiedene Richtungen. Ich verstehe nichts und kann in ihrer Tonlage nichts Beruhigendes heraushören. Ich schaue mir das Auto an und prüfe, ob mein Fahrrad hineinpassen würde. Keine Chance. Das Auto ist zu klein und voller Eimer und Zeug. Die Leute fahren in die Richtung, aus der ich gekommen bin, weg.

 

Ich checke den kleinen See und entdecke daneben eine zweite Wasserfläche, die etwas kleiner ist und in der zwei Brettern liegen. Eines wirkt stabiler und ähnelt eher einem Balken. Daneben liegt ein normales Brett. Beide sind etwa 15 Zentimeter breit. Also wuchte ich mein Fahrrad auf das dicke Brett und wähle selbst das dünne. Ich denke nur: „Nicht ausrutschen und das Fahrrad darf nicht vom Brett abkommen.“ Mein Brett sinkt und ich stehe bis zu den Knöcheln im Wasser, aber zum Glück nicht im Schlamm. Vorsichtig weiterschieben. Mein Fahrrad und ich kommen gemeinsam über die Wasserstelle. Noch ein paar Schritte durch den Morast. Geschafft! Von den Mückenattacken während dieser Aktion rede ich gar nicht. Schnell noch ein Foto und weiter durch den Wald in der Hoffnung, dass es noch estnisches Gebiet und nicht schon Russland ist. „Warum bin ich eigentlich nicht diesen einen Kilometer durch Russland auf einer richtigen Teerstraße gefahren? Hätte meine Nerven geschont.“

 

Irgendwann komme ich wieder auf einen Schotterweg und dann sogar auf eine Teerstraße. Völlig verschwitzt und zerstochen komme ich bei der Station der Grenztruppen an. Ich entschuldige mich für meine Verspätung und denke, ich kann erst einmal auf Toilette gehen, mich mit kaltem Wasser erfrischen und etwas trinken. Der Mitarbeiter der Grenztruppen fordert mich auf, in sein Auto zu steigen, damit er mir den Grenzzaun zeigen kann. Im Auto erklärt er mir die Technik der Grenzüberwachung und berichtet von Kameras im Wald. Ich frage, ob seine Kollegen mich schon gesehen hätten. Er grinst, nickt und sagt „Ja, wir haben dich gesehen.“ Ich frage, ob ich mir diese Bilder anschauen dürfte. Er lehnte ab. „Das ist nicht erlaubt.“ Schade.