· 

Eine Seto-Familie in Saatse

Drei Generationen einer Seto-Familie leben in Saatse auf einem riesigen Grundstück mit endlosen Rasenflächen, üppigen Blumen, großem Gemüsegarten, Gewächshaus mit Tomaten und einem Schwimmteich – dazu gehören unter anderem: Sirje (Mutter), Meelike (Tochter) und Hendrik (Enkel).  Die Seto sind eine indigene Volksgruppe im Nordosten Europas. Ihr historisches Gebiet Setomaa liegt an der heutigen Grenze zwischen dem südöstlichen Estland und dem nordwestlichen Teil Russlands. Trotz wechselnder politischer Zugehörigkeiten und Grenzziehungen mitten durch ihr Gebiet hat es das stolze Volk geschafft, seine Traditionen zu bewahren.

 

Meelike ist 41 Jahre alt und stolz, zur Gruppe der Seto zu gehören. „Es sind meine Wurzeln, und ich mag diese Kultur“, bringt sie es auf den Punkt. Jeden Montag singt sie in einem Chor traditionelle Seto-Gesänge.  Diese polyphone Gesangstradition wurde von der UNESCO als immaterielles Kulturerbe anerkannt. Während dieser Gesang früher die tägliche Arbeit begleitete, wird er heute bei allen regionalen Volksfesten präsentiert. Es gibt auch moderne Interpretationen dieses Gesangs und Vermischungen mit modernen Musikrichtungen. "In meinem Chor beschränken wir uns auf traditionelle Melodien und Texte in der Seto-Sprache.“ Die Seto Leelo haben ihre historischen Wurzeln im Runo-Gesang der ostseefinnischen Völker, enthalten aber auch Einflüsse aus der volkstümlichen russischen Gesangstradition. Traditionell war es üblich, dass Vorsängerinnen, meist Frauen, die Texte in der Situation kreierten. „Heute haben wir Liedtexte, die auf Grundlage der überlieferten Texte aufgeschrieben wurden“, erklärt Meelike.

 

Seto ist ihre Muttersprache, die über Generationen hinweg überliefert wurde. Es ist eine finno-ugrische Sprache. „In der Familie sprechen wir meist Seto“, so Meelike. Ihr neunjähriger Sohn Hendrik nickt. Auch er spricht die Sprache seiner Eltern und Großeltern. In allen Schulen im historischen Setooma-Gebiet auf estnischer Seite gibt es mindestens eine Wochenstunde Seto. „Wir erfahren viel über die Kultur, die Kleidung und den Gesang“, erzählt Hendrik. „Wir lernen auch typische Spiele und Ausdrücke.“

 

Meelike, die als Grundschullehrerin arbeitet, erklärt, dass die Seto eigentlich zwei Religionen haben. „Wir gehen in die orthodoxe Kirche und feiern jeden kirchlichen Feiertag sehr intensiv. Aber wir haben auch unsere traditionelle Religion, die mit der Natur und der Erde verbunden ist.“ Für die Seto ist der Fruchtbarkeitsgott Peko sehr wichtig. Meist wird er als hölzerne Figur dargestellt. „Früher hatten die Menschen diese Figuren in ihren Getreidelagern.“ Meelike lacht und erklärt, dass sie keinen Peko mehr haben. „Aber wir haben ja auch kein Getreidelager.“

 

Dann erzählt sie von den großen Festen, die zu bestimmten Feiertagen auf dem Friedhof stattfinden. „Viele Familien kommen mit Essen und Getränken und versammeln sich um die Gräber ihrer Angehörigen. Wir essen, erzählen, singen und erinnern uns an die Verstorbenen. So ehren und versorgen wir ihre Seelen." Meelike unterstreicht, dass es sich nicht um ein trauriges, sondern um ein fröhliches Zusammenkommen handelt.

 

Ein wichtiger Tag im Jahreskalender ist auch der Königstag. „Jedes Jahr wählen wir in Seto einen König oder eine Königin. Er oder sie soll uns ein Jahr lang nach außen repräsentieren. Das ist aber eine symbolische Angelegenheit und keine offizielle“, erklärt Meelike. Diese Tradition gründet nicht auf einer historischen Monarchie, sondern ist Ausdruck einer neuen Identität der Seto. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands im Jahr 1991 wurde das traditionelle Siedlungsgebiet der Seto durch die neu gezogene estnisch-russische Grenze geteilt. Dadurch wurden Familien und Gemeinschaften getrennt und die Einheit der Seto-Kultur bedroht. Um die Identität zu stärken, entstand die Idee des Seto-Königreichs. 1994 wurde erstmals ein König gewählt. „An dem Königstag feiern wir auch unseren Gott Peko und die Schönheit der Erde.” Zu den Aufgaben des Königs oder der Königin gehört es, die Bedürfnisse der Seto zu vertreten. „So muss unser König beispielsweise nach Tallinn und bei der Regierung vorsprechen, damit unsere Schulen erhalten bleiben oder wir ordentliche Straßen bekommen. Oft geht es um Geld, damit wir hier in der Grenzregion nicht vergessen werden.“

 

In dieser ländlich geprägten Region gibt es nur wenige Arbeitsplätze. Mutter Sirje (64) erinnert sich, dass sie zu Sowjetzeiten regelmäßig mit reicher Ernte aus dem eigenen Gemüse- und Obstgarten nach St. Petersburg gefahren ist, um ihre Produkte zu verkaufen. „Wir sind immer mit gutem Geld zurückgekommen.“ Seit etwa zehn Jahren nutzt sie die Produkte aus ihrem Garten für die eigne Küche und bietet traditionelle Seto-Küche in ihrem kleinen Restaurant an. Eine Spezialität ist zum Beispiel Sõir, eine Art Kochkäse, der warm mit verschiedenen Fruchtchutneys serviert wird. „Im Mittelpunkt meiner Küche stehen die Produkte aus meinem Garten und Fisch aus der Region“, so Sirje. Das Logo und der Name des Restaurants ist die Mohnblume, in Seto "Maagõkõnõ". Meelike erklärt, dass vor 30 Jahren als ihre Eltern das Grundstück kauften, überall Mohnblumen wuchsen. 

 

Die Idee, ein Restaurant zu eröffnen, wuchs über die Jahre. Sirje kochte regelmäßig auf lokalen Festen und präsentierte ihre Speisen bei den jährlichen „Seto-Tagen“, wo Familien ihre Gärten öffnen und traditionelles Essen anbieten. „Dabei entdeckte ich meine Leidenschaft für gutes, traditionelles Essen und den Wunsch, es Gästen regelmäßig anzubieten – nicht nur einmal im Jahr.“  Essen gibt es im "Maagõkõnõ  jedoch nur nach vorheriger Anmeldung. „Dann kann ich besser planen, alles frisch zubereiten und habe keine Reste.“ Für ihre authentische, lokale Küche hat sie schon viele Auszeichnungen vom König bekommen.

 

Sirje erinnert sich daran, dass ihre Großmutter noch die traditionelle Seto-Kleidung getragen hat, die heute nur noch in Museen und auf Volksfesten zu sehen ist. Während der Zeit der sowjetischen Besatzung sei die Seto-Kultur nicht verboten gewesen. „Wir haben die Kultur wenig gepflegt, aber unsere Sprache erhalten. Die große Wiederentdeckung unserer vielfältigen Kultur kam erst nach der Unabhängigkeit Estlands im Jahr 1991. Und jetzt sind wir stolz in Setomaa zu leben.“