Solvita Binovska spricht perfekt Deutsch und freut sich, die Sprache einmal wieder anzuwenden. Sie stammt aus einem Dorf in der Nähe von Ludza, einer lettischen Kleinstadt mit 7.500 Einwohnern, die etwa 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt. Ludza liegt in der historischen Region Lettgallen im Südosten des Landes. Solvita erzählt, dass sie eigentlich mit drei Sprachen aufgewachsen sei. „Zu Hause haben wir Lettisch und Lettgallisch gesprochen. Das sind meine Muttersprachen. Auf der Straße habe ich Russisch gelernt. Das war aber nichts Besonderes, das war normal“, erinnert sie sich heute. „Ich habe mir als Kind nie Gedanken darüber gemacht, welche Sprache ich wann benutzen sollte. Das ging automatisch.“
Deutsch ist für sie die erste und einzige Fremdsprache, die sie formal gelernt hat. „Damit habe ich mit etwa zehn Jahren in der Schule angefangen. Ich hatte keine Wahl, das war die einzige Fremdsprache, die damals an meiner Schule angeboten wurde.“ Aber Deutsch scheint sie begeistert zu haben, denn sie nutzte jede Möglichkeit, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Im Fachgymnasium in der nächstgrößeren Stadt Rēzekne gab es allerdings nur eine Stunde Deutsch pro Woche. Während ihres Studiums „Pädagogik und Psychologie” hat sie nebenbei Deutsch studiert. „Da habe ich auch Goethe gelesen und mich wirklich mit der Sprache beschäftigt.“ Als Studentin hatte sie erstmals die Möglichkeit, nach Deutschland zu fahren: In den Semesterferien arbeitete sie drei Monate als Au-pair im Allgäu und lernte neue Wörter wie „Wurschd” oder „Zwetschge”. Kurz darauf nahm sie an einem Erasmus-Programm in Porto teil. „Das wurde an der Uni angeboten und man sagte uns, dass es dort auf jeden Fall Möglichkeiten gäbe, Deutsch zu sprechen.“ Die Realität sah allerdings anders aus: „Die Dozenten an der Uni sprachen Deutsch, aber sonst natürlich niemand“, lacht sie heute. „Aber trotzdem war es eine lehrreiche Zeit. Ich habe nämlich Englisch gelernt, da ich mich in Portugal irgendwie verständigen musste.“
Nach dem Studium arbeitete sie in Ludza in der Landkreisverwaltung im Bereich 'Interkulturelle Arbeit'. „Eines Tages kam ein Anruf aus Bad Bodenteich in Niedersachsen“, freut sie sich noch heute. „Das war der Anfang einer langen Partnerschaft der beiden Gemeinden.“ Solvita erinnert sich an zahlreiche Reisen nach Deutschland und ebenso viele Gegenbesuche aus Bad Bodenteich. Zunächst war es eine inoffizielle Partnerschaft, die später mit einer Partnerstadturkunde besiegelt wurde. Mit ihren Deutschkenntnissen konnte Solvita entscheidend zum Erfolg beitragen.
Die heute 45-Jährige hat die ersten Jahre ihrer Kindheit in der Sowjetunion verbracht. Sie erinnert sich noch gut daran, wie sie in der dritten Klasse darüber nachdachte, ob sie den Pionieren, der Kinder- und Jugendorganisation der damaligen Sowjetunion, beitreten sollte. „Und dann brach eine neue Zeit an“, fasst sie die Ereignisse Ende der 1980er Jahre zusammen. Sie selbst war mit ihren Eltern nicht Teil der aktiven „Singenden Revolution“, die den Auftakt zur Unabhängigkeit der baltischen Staaten nach Jahrzehnten der sowjetischen Okkupation markierte. „Aber wir saßen vor dem Fernseher und haben das verfolgt. Als Kind habe ich im Fernsehen auch immer wieder Panzer am Rande der Demonstrationen gesehen. Das machte mir Angst.“ Ihre Eltern versuchten, sie zu beruhigen. Heute geht sie davon aus, dass ihre Eltern selbst Sorge hatten, die Revolution könnte gewaltsam beendet werden.
Ludza ist auch fast 35 Jahre nach der Unabhängigkeit Lettlands immer noch ein Ort, in dem auf der Straße Russisch gesprochen wird. „So haben auch meine Kinder Russisch gelernt.“ Sie spricht jedoch von einem friedlichen Nebeneinander der lettischen und russischen Bevölkerung. „Über Politik reden wir nicht viel in der Öffentlichkeit.“ Eine Freundin aus der Ukraine, die aufgrund des russischen Angriffskriegs nach Lettland gekommen ist, überlegt allerdings, Ludza wieder zu verlassen. Die Nähe zu Russland und die vielen russischsprachigen Menschen auf der Straße machen ihr Angst.
Solvita kennt die Diskussionen über Russland aus ihrer Familie. Ihre Schwiegermutter ist Russin und ihr Mann wurde in Moskau geboren. Sie erzählt: „Mein Schwiegervater aus Ludza war in den 1980er Jahren als Gaststudent in Moskau. Er lernte meine Schwiegermutter kennen und sie wurde schwanger. Ihr Sohn kam in Moskau zur Welt, dann zogen beide nach Ludza, das damals zur Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik (LSSR), einer von 15 Unionsrepubliken der Sowjetunion, gehörte. Noch heute ist die Schwiegermutter vom russischen Staatsfernsehen beeinflusst. Sie telefoniert regelmäßig mit ihren Verwandten in Russland und äußert sich dabei negativ über die Ukraine, während sie Verständnis für die Politik Russlands zeigt. ‚Wir diskutieren viel, aber wir kommen nicht zusammen‘, so Solvita. Mein Mann versucht ihr zu erklären, dass Russland zwar ihre Heimat ist, man deshalb aber nicht alles unterstützen muss, was dort passiert. Anscheinend ohne Erfolg. „Aber es ist meine Schwiegermutter, sie ist Teil der Familie, und wir versuchen, gut miteinander auszukommen.“
Solvita konnte ihre Deutschkenntnisse viele Jahre lang nicht beruflich nutzen. Seit kurzem arbeitet sie an einem Gymnasium in Rēzekne, wo sie unter anderem Deutsch unterrichtet. „Auf sehr niedrigem Niveau und nicht alle sind motiviert.“ Sie ist jedoch optimistisch, dass sich in Zukunft wieder mehr Möglichkeiten ergeben, ihr Deutsch beruflich zu nutzen – neben Lettisch, Lettgallisch und Russisch.