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Leninkopf auf dem Raketensockel

 

In Zeltini im Nordosten Estland gab es von 1961 bis 1989 einen sowjetischen Atomraketenstützpunkt mit vier Abschussrampen für ballistische Mittelstreckenraketen. Deren Reichweite wurde mit über 2000 Kilometer angegeben. Sie hätten also viele wichtige europäische Hauptstädte erreichen können. Zum Glück kamen diese Waffen nie zum Einsatz. Es war Kalter Krieg und hier bereiteten sich etwa 300 Militärangehörige 38 Jahre lang auf einen eventuellen Ernstfall vor.

 

Gunita Paleja hat ihr ganzes Leben in der Nähe dieser streng geheimen Anlage gelebt. Nachdem die Sowjetarmee das Gelände 1991 endgültig verlassen hatte, begann sie zu recherchieren und führte Zeitzeugeninterviews mit Menschen, die dort gearbeitet haben. „Am Anfang war es schwierig, denn viele ehemalige Offiziere wollten nicht reden.“ Sie hatten ja auch in den letzten Jahrzehnten unter höchster Verschwiegenheit gearbeitet. Doch Gunita ließ nicht locker. „Ich kam mit den Menschen immer wieder ins Gespräch und erfuhr immer mehr Details.“ Heute macht sie Führungen auf dem 20 Hektar großen Gelände und kann die Funktionsweise dieses ehemaligen sowjetischen Atomraketenstützpunktes detailliert erläutern.

 

In der Region wusste niemand, was hier passiert. „Es waren auch keine Einheimischen, die hier arbeiteten, sondern speziell ausgebildete Fachleute aus der ganzen Sowjetunion“, erklärt Gunita. Einheimische arbeiteten höchstens in der Küche oder in der Versorgung. Es gab Soldaten, die die ganze Zeit auf dem Gelände lebten und arbeiteten. Offiziere und Führungskräfte hatten immer Zwei-Wochen-Schichten, in denen sie auf dem Militärgelände lebten. Während ihrer Freizeit lebten sie ein normales Leben, hatten Wohnungen zum Beispiel in der nahegelegenen Stadt Alüksne, heirateten, gründeten Familien und nahmen am gesellschaftlichen Leben teil. „Es waren sehr angesehene Menschen, galten als interessant und intelligent“, fasst Gunita es zusammen. „Hochrangige Armeeangehörige gingen mit Männern aus Alüksne zum Jagen. Man kannte sich also“, beschreibt die 59-Jährige die Situation. „Man könnte heute sagen, dass die Offiziere, die hier arbeiteten, eine Art Doppelleben führten. Denn nach außen drang nichts. Niemand wusste, dass sie Teil des Sowjetischen Atomprogramms waren und täglich trainierten, wie man Atomraketen Richtung Westen abfeuert.“

 

Gunita ist es aber auch wichtig zu betonen, dass die Region auch von dieser militärischen Einrichtung profitierte. Es wurden zum Beispiel Straßen ausgebaut und neue Wohnblöcke errichtet. Manchmal unterstützten die Soldaten auch bei schweren Arbeiten in der Landwirtschaft.

 

„Von nuklearen Waffen wusste die Bevölkerung nichts. Es war auch nicht die Zeit, dass die Bevölkerung kritische Fragen stellte“, sagt Gunita. Allerdings sei das Thema Radioaktivität immer mal wieder bei der Bevölkerung ein Thema gewesen. „Aber es war alles nur Spekulation, da es keine offiziellen Auskünfte gab.“ Sie erzählt von einem Offizier, der einem guten Freund empfahl, dass seine schwangere Frau für eine Zeit das Gebiet verlassen sollte. „Es wäre besser für ihre Gesundheit“, lautete die Begründung. „Und ich war zu dieser Zeit auch schwanger“, sagt Gunita. „Und ich wusste damals nichts von radioaktiver Strahlung.“ Sie erinnert sich allerdings an eine Situation rund um die Geburt ihres Kindes als ein Arzt sie nach ihrem Wohnort fragte. Er reagierte etwas besorgt, als er Zeltini hörte. „Aber es ist ja alles gut gegangen“, sagt sie heute. Untersuchungen einer internationalen Behörde haben 1991 bescheinigt, dass auf dem Gelände keine erhöhte Strahlenbelastung vorherrsche.

 

Das ehemalige Militärgelände ist heute eine Mischung aus einer militärhistorischen Sehenswürdigkeit, einem Gewerbegebiet und einem riesigen ‚lost place‘. Gunita erklärt, dass das Gelände nach dem Abzug der Sowjetarmee, dem Vandalismus ausgesetzt war. Die Menschen waren vor allem auf der Suche nach Metall als wertvollem Rohstoff. „Es wurden alle Rohre und Kabel entfernt. Somit ist die komplette Elektrik, Wasserversorgung und Wärmeversorgung zerstört.“ Übriggeblieben sind in erster Linie Betongebäude, Hanger zur Lagerung der Raketen und Raketensprengköpfe, Kommandozentrale und Bombenschutzräume.

 

Das ganze Gelände war überwacht, von der Öffentlichkeit abgeriegelt und streng geheim. Gunita erklärt, dass der Bereich, in dem mit den nuklearen Sprengköpfen gearbeitet und trainiert wurde, noch einmal extra abgesichert war. Von den Zeitzeugenberichten weiß sie, dass das Areal mit einem tödlichen elektrischen Zaun umgeben war. Es ist ein Fall dokumentiert, in dem ein Soldat an diesem Zaun starb. Nur die besten und qualifiziertesten Offiziere durften in diesem Bereich arbeiten. Es reichte aber nicht nur das Fachwissen, sondern diese Menschen wurden auch vom sowjetischen Geheimdienst „KGB“ überprüft.  Für diese gefährliche Arbeit trugen sie spezielle Schutzkleidung. Die Radioaktivität wurde ständig gemessen.

 

In der Kommandozentrale ging es darum, im Ernstfall den Knopf zu drücken. Ein ehemaliger Offizier berichtet, dass es nach dem Befehl keine kritische Reflexion gab. Es war auch kein roter Knopf, wie oft angenommen wird, sondern es waren zwei Knöpfe, die gleichzeitig gedrückt werden musste. Es waren immer noch zwei weitere Personen im Raum, um zu garantieren, dass die Knöpfe auf jeden Fall gedrückt werden. Den Befehl nicht auszuführen, war laut Gunita undenkbar.

 

Damit sich die Offiziere im Ernstfall in Sicherheit bringen konnten, gab es mehrere unterirdische Bunker unterschiedlicher Ausstattung, Zwei mit sehr unterschiedlicher Ausstattung sind erhalten. Der eine war für einen längeren Aufenthalt ausgestattet, der andere nur für eine kurze Zeit.

 

Zum Glück wurde in Zeltini nur der Ernstfall geprobt. Er ist nie eingetreten. Heute macht Gunita regelmäßig Führungen für Gruppen und auch für Schulklassen. Es gibt einen Audioguide, so dass Interessierte das Gelände auf eigene Faust entdecken können. Es wird für Motosport genutzt, ab und zu gibt es ein Musikfestival in einem der Hangar. „Aber das Wichtigste ist, dass dieses Gelände als militärhistorische Sehenswürdigkeit erhalten bleibt, damit die Menschen verstehen, dass es den Kalten Krieg wirklich gab“, so Gunita. „Die Stadt Alüksne ist heute für das Gelände verantwortlich“, erklärt Liva Bulina von der Abteilung Touristik der Stadt. „Die Arbeit von Gunita ist für uns von unglaublichem Wert.“

 

Und auf dem Gelände hat der Leninkopf, der bis in die 1990er Jahre an zentraler Stelle in Alüksne stand, eine neue Heimat gefunden. Mit 3,5 Metern Höhe gehört zu den größten in Europa. Er steht mitten auf der ehemaligen Abschussrampe für Mittelstreckenwaffen mit Atomsprengköpfen.