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Grenzschutz im hybriden Krieg

 

Am geschlossenen Grenzübergang Silene, wo einst reger Verkehr zwischen Lettland und Belarus herrschte, erläutert Raimonds Kublickis, Leiter des Staatlichen Grenzschutzes (Valsts Robežsardze) im Bereich Daugavpils, die Situation. Heute sichern riesige Betonklötze und Panzersperren aus Metall den Grenzübergang. Seine Worte lassen keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Lage: "Der Staatliche Grenzschutz Lettlands sieht sich nicht nur mit einer Einwanderungskrise konfrontiert, sondern mit einer hybriden Kriegsführung durch das belarussische Regime."

 

Lettland trägt eine enorme Verantwortung. Im Osten des Landes sichert es 455 Kilometer Außengrenze der Europäischen Union und des Schengenraums – gleichzeitig die östliche Flanke der NATO. Kublickis schildert die aktuelle Lage folgendermaßen: "Im Bereich der Grenze zu Russland ist es vergleichsweise ruhig, aber an den 172 Kilometern Grenze zu Belarus sind wir gut beschäftigt." 

 

Die kalkulierte Provokation aus Minsk

Trotz massiver Ausbauarbeiten des lettischen Grenzschutzes versuchen täglich im Schnitt immer noch knapp hundert Menschen, illegal aus Belarus nach Lettland zu gelangen. Raimonds Kublickis stellt klar: "Es handelt sich hier nicht um Geflüchtete, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Es ist eine gesteuerte Aktion mit Auswirkungen auf die EU." Derzeit stammt die Mehrheit dieser Personen überwiegend aus afrikanischen Ländern und dem Mittleren Osten. Belarus wirbt diese Menschen an, ermöglicht ihnen einen Flug nach Minsk und organisiert Transporte mit Bussen an die Grenze zur EU.

 

Mit diesen hybriden Attacken rächt sich Belarus für die verhängten Sanktionen.  Bereits 2020 begann die EU, Sanktionen gegen Belarus zu verhängen, als Reaktion auf die manipulierten Präsidentschaftswahlen und die brutale Unterdrückung friedlicher Proteste. Im Jahr 2021 folgten weitere Sanktionen, nachdem ein Ryanair-Flugzeug in Minsk zur Landung gezwungen und der belarussische Oppositionelle Roman Protassewitsch festgenommen wurde. Seitdem nutzt das Lukaschenka-Regime die "illegale Migration" nach Polen, Litauen und Lettland als bewusste und gezielte Waffe.

 

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: "Seit 2021 haben wir an der lettisch-belarussischen Grenze mehr als 37.000 Menschen davon abgehalten, unser Land illegal über die „Grüne Grenze“ zu erreichen.“  Für Kublickis ist der Unterschied wichtig, dass Grenzübertritte verhindert werden und nicht, dass Menschen über die Grenze zurückgedrängt werden.

 

"Die höchste Zahl hatten wir bisher 2023 mit 14.000 Personen. 2024 gingen die Zahlen zwar etwas zurück, aber das ist kein Grund zur Entwarnung: In diesem Jahr sind es bereits über 7.800 Personen an unserer Grenze." (Stand Ende Juli). An der gesamten belarussischen Grenze zur EU werden täglich etwa 200 illegale Grenzübertritte registriert.

 

Raimonds Kublickis unterstreicht die Absurdität der Situation: "Das Grenzgebiet in Belarus ist eigentlich Sperrgebiet. Menschen dürften sich dort gar nicht aufhalten." Dennoch begegnen seine Mitarbeiter immer wieder Gruppen nahe der Grenze. Sie versuchen, die Menschen in verschiedenen Sprachen anzusprechen und zu erklären, dass ein Grenzübertritt illegal ist. Doch oft tragen die Migranten Masken, um unkenntlich zu bleiben, und laufen weg, ohne zu antworten. Auch die belarussischen Behörden werden telefonisch informiert. "Aber es gibt keine Antwort, und es passiert auch nichts."

 

Katz und Maus an der Grenze

Kublickis beschreibt die Situation als ein 'Katz-und-Maus-Spiel': "Anscheinend bekommen die Gruppen Informationen, wann wir einen Abschnitt gerade kontrolliert haben. Wir haben öfters festgestellt, dass danach Grenzübertritte stattfinden." Immer wieder wird der Grenzzaun beschädigt, um Schlupflöcher zu schaffen – Taten, die spezielle Werkzeuge erfordern. Das sei ein weiterer Hinweis darauf, dass diese Form der Migration nicht nur vom belarussischen Staat geduldet, sondern auf unterschiedliche Weise unterstützt wird. Kublickis berichtet auch von vereinzelten Angriffen auf Mitarbeiter des lettischen Grenzschutzes durch "Geflüchtete" aus Belarus.

 

"Wir haben beobachtet, dass es bei fast jeder Gruppe von Migranten immer eine Führungsperson gibt", so Kublickis. "Diese spricht meist Russisch, hat in der Regel ein GPS-Gerät bei sich und scheint nicht Teil der Gruppe zu sein. Aber solange wir das nur beobachten und nicht nachweisen können, dürfen wir solche Schlepper nicht festnehmen." Die Absicht ist klar: Das belarussische Regime will die EU destabilisieren.

 

Asylrecht unter Druck

Seit 2021 können Menschen an der lettisch-belarussischen Grenze de facto kein Asyl mehr beantragen. Sie werden über die Grenze nach Belarus zurückgedrängt. Dies ist die Folge einer "Ausnahmesituation", die seither immer wieder verlängert wird. Dafür erntet der lettische Staat auch Kritik. Es sind Pushbacks, die völkerrechtswidrig umstritten sind.  Die Grenzschützer bezeichnen diese Vorgehensweise als Prävention und Schutz der Staatsgrenzen. "Die Anzahl der Menschen, die hier an der Grenze um Asyl gebeten haben, war vor 2021 gering", erinnert sich Raimonds Kublickis. Die Zahl der Menschen, die sich illegal im Grenzgebiet aufhielten lag unter 20 Personen pro Jahr – ein krasser Kontrast zu heute.

 

Raimonds Kublickis betont die übergeordnete Mission: "Es ist ein hybrider Krieg. Wir schützen unsere Grenzen, und die Ukraine verteidigt ihr Land und ihre Freiheit." Es ist die Aufgabe des Grenzschutzes, Lettland und damit die gesamte EU zu schützen.

 

Zu den Aufgaben des Grenzschutzes gehört auch die Beobachtung der Nachrichten und Medien in Belarus. "Die Propaganda gegen die EU und den Grenzschutz der europäischen Länder ist massiv. Man zeigt sogar Videos, die mit künstlicher Intelligenz erzeugt wurden, von verletzten und blutenden Flüchtlingen, verursacht durch den Grenzschutz der europäischen Anrainerstaaten", berichtet Kublickis. Er überlegt, ob es nicht sinnvoll wäre, von westlicher Seite mehr Aufklärung in Belarus über die tatsächliche Situation zu betreiben.

 

Lettland hat bereits über 142 Kilometer eines etwa 3,50 Meter hohen Zauns mit Stacheldraht entlang der Grenze zu Belarus errichtet. Daneben verläuft eine Fahrspur, die eine schnelle Erreichbarkeit jedes Abschnitts ermöglicht. "Selbst die moorigen und sumpfigen Gebiete sind durch einen Zaun geschützt", erklärt Kublickis. Der Aufbau eines Videoüberwachungssystems und anderer technischer Lösungen soll bis Ende 2026 abgeschlossen sein. Wo die Grenze durch Seen und Flüsse führt, ist derzeit kein Zaun geplant. Raimonds Kublickis zeigt auf einen riesigen See, in den der Zaun noch wenige Meter hineinragt. "Die Grenze verläuft durch den See. Hier ist kein Zaun geplant", erklärt er, betont aber gleichzeitig, dass sich in der aktuellen Situation hier niemand aufhalten darf – nicht einmal zum Angeln. Mit verschiedenen Methoden der technischen Überwachung können wir auch dieses Gebiet kontrollieren.

 

Die Grenzbefestigung kostet den lettischen Staat viel Geld und erfordert große Anstrengungen. "Bei offiziellen Bewertungen, die von den Schengen-Evaluierungsteams durchgeführt wurden, wurde uns bescheinigt, dass wir hier gute Arbeit leisten – nicht nur für uns, sondern für ganz Europa."

 

Der Grenzübergang in Silene, einst der größte zwischen der EU und Belarus, wurde 2023 geschlossen. Bis dahin nutzten ihn täglich etwa 400 Autos, 200 Lastwagen und 1.000 Personen . Raimonds Kublickis erinnert sich an die gute Zusammenarbeit mit den belarussischen Grenzbehörden: "Wir hatten regelmäßig Treffen und sprachen sogar schon über eine gemeinsame Grenzüberwachung." Von einem Tag auf den anderen änderte sich das komplett.