
Die Zahl 50, die auf dem Blumenbeet steht, wirkt klein. Gibt es nicht so viel zu feiern? Oder ist 50 Jahre für eine Stadt doch ein vergleichsweise junges Alter. Visaginas ist die jüngste Stadt Litauens. Den einzigen Grund, warum diese Stadt 1975 gegründet wurde, ist das Kernkraftwerk Ignalina, etwa 10 Kilometer von Visaginas entfernt.
Es sollte das größte Kernkraftwerk der Sowjetunion werden. Bereits bei seiner Inbetriebnahme 1983 galt es als das leistungsstärkste Kraftwerk der Welt. Es sollte Litauen, Lettland, Belarus und Kaliningrad mit Energie versorgen. Dafür brauchte man Arbeitskräfte und die brauchen Wohnraum. Also begann man in einem Kieferwald am Ufer des über 200 Hektar großen Visaginas-Sees mit dem Neubau einer Stadt. Ursprünglich sollte die Stadt die Form eines Schmetterlings mit vier Flügeln annehmen, der sich um das Nordufer schmiegt.
Doch es kam anders: 1986 ereignete sich die Reaktorkatastrophe im etwa 500 Kilometer entfernten Tschernobyl. Da das Kernkraftwerk in Ignalina vom gleichen Bautyp war, wurden die Ausbaupläne gestoppt. Auch der weitere Aufbau der Stadt wurde eingefroren. So bekam der „Schmetterling“ nur zwei Flügel und konnte nie richtig fliegen. 2009 kam das endgültige Aus für das Kernkraftwerk. Seitdem versucht sich die Stadt neu zu erfinden.
Eine Stadt erfindet sich neu
Tatjana Dmitrieva und Anastasija Jevtiuchova arbeiten in der Touristinfo in der Stadt und geben ihr Bestes, das Image der Stadt zu verbessern. Sie sind optimistisch und überzeugt, dass die Talsohle überwunden ist. Der Bevölkerungsrückgang sei gestoppt und es gäbe Zuzug von jungen Familien. Visaginas war schätzungsweise für bis zu 80 000 Einwohnern geplant. Die höchste Einwohnerzahl hatte die Stadt Mitte der 1990er Jahre mit über 33 000 Menschen. Heute sind es noch gut 19 000.
Tatjana und Anastasija unterstützen nicht nur Touristen, sondern arbeiten auch gegen Stereotype, die über ihre Stadt verbreitet werden. Visaginas gilt als russische Stadt in Litauen. Arbeitskräfte wurden in der ganzen Sowjetunion angeworben. Auch Tatjanas Eltern kamen Mitte der 1970er-Jahre aus Belarus in die neue Stadt, die als klassisches Beispiel sowjetischer Planungsarchitketur gilt. Manchmal scheinen die skeptischen Blicke von außen auf die Stadt auch ein bisschen zu nerven. Tatjana und Anastasija kommen bei aus Visaginas und haben ihre Kindheit und Jugend hier verbracht, bevor sie zum Studium nach Vilnius und England gegangen sind. Russisch ist ihre Muttersprache, Litauisch haben sie in der Schule und im Studium gelernt. Beide sind zurückgekehrt und leben jetzt mit ihren Familien hier. Sie schwärmen von ihrer eigenen Kindheit in der Stadt und dies wollen sie jetzt auch ihren Kindern bieten. „Alles ist fußläufig zu erreichen. Die Kinder können allein zum Sport gehen oder sich mit ihren Freunden am See treffen“, schwärmt Anastasija.
Ein sicherer Hafen für Jugendliche
Mitten in dieser Idylle hat Alexej Urazov in einem fünfstöckigen Wohnhaus einen Platz für Jugendliche geschaffen, die ihren Platz in der Stadt nicht finden, weil sie anders sind und nicht der Norm entsprechen. „Visaginas ist ein konservativer Ort. Solange du ausschaust und dich verhältst, wie alle anderen und den Erwartungen gerecht wirst, lebt es sich gut in Visaginas“, erklärt Alexej.
Der See mit allen Freizeit- und Wassermöglichkeiten ist nicht nur sprichwörtlich vor der Haustür. Von den meisten Wohnblocks ist er über kurze Fußwege durch den Kiefernwald erreichbar. Unter der Hauptverkehrsstraße gibt es eine Unterführung, so dass man auch sicher an den Strand kommen kann. Uferwege laden zu Spaziergängen oder Radtouren ein. In der Stadt gibt es breite Promenadenwege. An einem heißen Sommerabend flanieren Familien. Kinder mit nassen Haaren in Badekleidung tragen Flip-Flops und haben ein Handtuch umgeschlungen. Es sieht fast ein bisschen nach Strandurlaub und nicht nach Wohnalltag aus.
Währenddessen sitzt Alexej mit Daria, 13, und Ervinas, 16, auf dem Fußboden des Kulturzenrums "Točka" inmitten von Perlen, Dekomaterial und Sammelsurium. Sie bilden eine Einheit mit ihrer kreativen Umgebung und kleben meditativ Perlen auf Strandgut aus Holz. Am Wochenende steht ein Harry-Potter-Event an und sie basteln die Deko.
„Ich habe diesen Ort vor acht Jahren gegründet, weil ich so einen Ort als Jugendlicher in Visaginas nicht hatte, ihn aber dringend gebraucht habe“, sagt der 42-Jährige. „Eigentlich braucht jede Stadt einen Ort der Begegnung, aber Visaginas braucht ihn vielleicht noch dringender. Die Gesellschaft der Stadt ist zwar multikulturell, die russische Sprache und Kultur bilden jedoch einen gemeinsamen Rahmen, der eine Art 'Sowjet-Identität' geschaffen hat. Diese Identität trägt zu einer eher konservativen und konformen Gesellschaftsstruktur bei, in der abweichende Lebensentwürfe weniger Platz finden."
Es kommen Jugendliche im Alter zwischen 13 und 18 Jahren. „Alle sind in irgendeiner Weise in ihrer Persönlichkeit verletzt und auf der Suche. Hier haben sie die Sicherheit und den Freiraum, sich zu entdecken und zu entwickeln.“ Viele fühlen sich der Punk-, Gothic- oder Metalszene zugehörig. Das Wichtigste für Alex ist aber, dass es ein sicherer Platz für die LGBTQ-Community ist. „Den gibt es nämlich sonst nicht in der Stadt. Und das erklärt er mit dem vorherrschenden Konservatismus.
Konservatismus und Widerstand
„Wer nicht der Norm entspricht, hat es schwer in der Stadt. Selbst wenn man gut in der Schule oder in anderen Bereichen ist, wird das nicht anerkannt“, schildert Alex seine Erfahrungen. „Das hängt noch mit der Kultur der ehemaligen Sowjetbürger zusammen“, mutmaßt Alex. „Und es gibt noch viele Menschen, gerade ältere, die mit dieser Kultur noch verhaftet sind. „Gayrope“ wird laut Alex auch häufig als Schimpfwort benutzt, mit dem man sich abfällig über westliche Demokratien und Gesellschaften äußerst, die die Rechte von LGBTQ-Personen achten. „Wie sollen Jugendliche sich in dieser Umgebung sicher fühlen?“ Das Kulturzentrum ist nicht nur ein Aufenthalts- und Freizeitort. Es gibt regelmäßige Treffen und regelmäßigen Austausch. „Wir bilden eine Community und sind füreinander da. In „Točka“ üben die Jugendlichen Toleranz und Resilienz. Sie lernen, über Probleme zu sprechen und diese von vielen Seiten zu beleuchten. Alexej fasst die Hausregeln zusammen: Kein Alkohol, keine Drogen, jeden respektieren.
Er kommuniziert mit den Jugendlichen auf Russisch. Das ist die Sprache, die sie beherrschen. Zwischendurch spricht er sie auf Litauisch oder Englisch an und lobt sie, wenn sie es schaffen, mit wenigen Worten zu antworten. Daria besucht eigentlich eine litauische Schule. „Ja, es gibt dort gute Lehrkräfte. Aber wenn sie merken, dass die Schüler sie nicht verstehen, sprechen sie russisch, damit die Kinder etwas lernen. „In dieser Umgebung ist es schwierig litauisch zu lernen. Man muss schon wollen und wissen, warum man es lernt.“ Alex ermutigt die Jugendlichen, sich mit der Kultur, Geschichte und Sprache ihres Landes, in dem sie leben, zu befassen. Und er ermutigt sie, Visaginas nach der Schule zu verlassen und die Welt zu entdecken. „Wenn sie zurückkommen, ist es gut, aber sie müssen selbst entscheiden, wo sie leben wollen.“
Die Arbeit, die Alex hier täglich leistet, ist ehrenamtlich. Die Stadt stellt ihnen das Gebäude kostenfrei zur Verfügung, aber Strom und Heizung müssen sie selbst bezahlen. Sein Geld verdient er vormittags, damit er nachmittags Zeit für seine Community mit etwa 40 bis 50 Jugendlichen hat. Zwei Sozialarbeiterinnen unterstützen ihn – auch ehrenamtlich. Seine Mission ist nicht nur, den Jugendlichen zu helfen, sondern ich wünsche mir, dass hier eine neue Generation von jungen Menschen heranwächst, die Europa entdecken und Litauen als ihr Land betrachten.
Laut Alex hat die Stadt keinen Plan, wohin sich der Ort entwickeln soll. Es kommen zwar junge Familien zurück, da die Wohnungen günstig sind und es viele Freizeitmöglichkeiten gibt. Aber eigentlich bräuchte die Stadt mehr junge litauische Familien. Die gibt es allerdings kaum. Denn: „Wer möchte schon, dass seine Kinder in dieser russisch geprägten Umgebung aufwachsen?“ Der litauische Staat habe sich aber auch zu wenig Gedanken über die Entwicklung der Stadt gemacht, auf der anderen Seite gelten wir als Problemfall. Keiner weiß so genau, wie viel Menschen hier das Putinregime unterstützen. Über Politik redet man in dieser Stadt kaum, zumindest nicht im öffentlichen Raum. Ich kann es, denn ich bin außerhalb der Norm – mit langen Haaren und immer barfuß unterwegs. Ich grüße auch Menschen oft mit „Slava Ukraini“ oder mit dem belarussichen Pendant „Žyvie Biełaruś!". An der Reaktion erkenne ich dann, ob ich mit den Menschen näheren Kontakt haben möchte oder nicht.
Tatjana und Anastasija sind dankbar für Alex Engagements. „Es gibt mehrere Aktivisten und Initiativen, die die Stadt verändern und weiterentwickeln wollen.“ Manche engagieren sich politisch oder andere bieten Outdoor-Aktvitäten an und zeigen dadurch, wie attraktiv der Ort ist. Arbeitslosigkeit sei kein Problem, da sich Firmen angesiedelt hätten, die Arbeitskräfte suchen. Anastasija ist optimistisch: „Die Menschen, die die Stadt und das Atomkraftwerk aufgebaut haben, sind im Ruhestand. Jetzt sind es andere, die das Leben in der Stadt gestalten, und diese unterstützen wir.“ Und dann ist es den beiden Frauen noch wichtig zu betonen: „Russisch zu sprechen sagt nichts über die politische Einstellung eines Menschen aus. Wir sind Litauer und warten nicht auf Putin.“