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Treibt Visapolitik Belarus in die Arme Moskaus?

 

Treiben die Sanktionen und die restriktive Visa-Politik der EU die belarussische Gesellschaft in die Abhängigkeit von Moskau? Andrei Vazyanau, Dozent an der European Humanitarian University in Vilnius, hat eine klare Meinung: Die belarussische Gesellschaft erlebt die Auswirkungen eines sich neu formierenden Eisernen Vorhangs zwischen dem Westen und Russland am stärksten. Er plädiert dafür, Russland und Belarus bei den Sanktionen getrennt zu betrachten und die belarussische Zivilgesellschaft in ihrem Kampf um Unabhängigkeit und Souveränität zu unterstützen.

 

Minsk und Vilnius trennen lediglich 200 Kilometer, verbunden durch ausgebaute Straßen und bis 2020 auch durch einen Zug. Menschen aus Belarus erhielten bis 2020 die meisten Schengen-Visa pro Kopf weltweit. Das änderte sich nach der gefälschten Präsidentschaftswahl von Alexander Lukaschenko und der gewaltsamen Niederschlagung der Massenproteste. Weitere Sanktionen folgten, als russische Truppen über belarussisches Staatsgebiet in die Ukraine einmarschierten.

 

Gleichzeitig verließen etwa 300.000 bis 500.000 Menschen das Land aus Angst vor Verfolgung. „Es ist ungefähr die gleiche Anzahl an Menschen, die Russland seit der Invasion der Ukraine verlassen hat. Aber die Bevölkerung von Belarus ist 16-mal kleiner“, ordnet der Wissenschaftler die Zahlen ein.

 

Diese große Auswanderungswelle hat viele Familien getrennt, da Geflüchtete in der Regel nicht nach Belarus zurückkehren können. Um ihre Angehörigen in der EU zu besuchen, müssen in Belarus verbliebene Familienmitglieder ein Schengen-Visum beantragen. „Doch für Belarussen ist es viel schwieriger, ein Schengen-Visum zu bekommen als für Russen“, so das Ergebnis von Recherchen.

 

Den genauen Grund dafür kennt Andrei Vazyanau nicht. Er vermutet jedoch, dass es sich weniger um eine strategische Entscheidung handelt, sondern eher um eine Konsequenz der diplomatischen Isolation von Belarus seit 2020. „Diese Politik unterstützt aber Russland“, erklärt der Wissenschaftler. Da es oft einfacher ist, ein Schengen-Visum in Russland zu bekommen, reisen viele Belarussen dorthin, um es zu beantragen. Meist erhalten sie es innerhalb weniger Tage und bleiben für diesen Zeitraum in Russland.

 

Andrei Vazyanau berichtet von Fällen, in denen selbst Mitarbeitende in EU-Botschaften in Minsk Reisewilligen empfohlen haben, das Visum in Russland zu besorgen. „Bei den Botschaften in Belarus dauert es oft bis zu einem Jahr, bei der deutschen Botschaft bis zu anderthalb Jahren bis die Menschen das Visum erhalten, um ihre Familien in einem EU-Land zu besuchen.“ Diese langen Bearbeitungszeiten betreffen laut Andrei Vazyanau auch die Netzwerkarbeit von Aktivist*innen und den kulturellen Austausch zwischen EU und Belarus.

 

Ein Bürgerrechtsaktivist musste zum Beispiel nach St. Petersburg reisen, um ein Visum für eine Konferenz in Finnland zu bekommen. Die EU, die die Reisekosten für solche Projekte übernimmt, zahlte somit auch für seinen Aufenthalt in Russland. „Das ist kein Einzelfall“, betont Vazyanau. „Die Botschaften der EU-Staaten in Minsk unterstützen mit dieser Politik die Wirtschaft Russlands und setzen Menschen aus Belarus zusätzlich der russischen Propaganda aus.“

 

Während es für Belarussen schwierig ist, in die EU zu reisen, öffnet Lukaschenko sein Land für EU-Bürger, die visafrei nach Belarus reisen könnten. Diese Tatsache nutzt er gezielt für seine Propaganda, um Belarus als offenes Land darzustellen, während sich der Westen abschottet.

 

Andrei Vazyanau, der ursprünglich aus der Ukraine kommt, hat jahrelang in Belarus gelebt und gearbeitet. Er musste das Land aus Angst vor Repressionen verlassen, weil er während des Präsidentschaftswahlkampfes einen Gegenkandidaten zu Lukaschenko unterstützt hatte. Nach den gefälschten Wahlen beteiligte er sich an Straßenprotesten und veröffentlichte regimekritische Texte in den Medien.

 

Sein Partner kann nicht zurück, um die Familie zu besuchen, ähnlich wie viele andere Menschen, deren Eltern in Belarus leben und ein Schengen-Visum beantragen müssen, um ihre Kinder sehen zu können. Andrei Vazyanau betont, wie wichtig dieser persönliche Kontakt ist: „Belarussen, die ihre Familien in EU-Ländern besuchen, lernen das Leben in einer freien Gesellschaft kennen. Sie erhalten leichter Zugang zu anderen Informationen als den Propagandanachrichten in ihrem eigenen Land.“ Er ist davon überzeugt, dass mehr Reisende in die EU das Image der EU und der westlichen Demokratien in der belarussischen Gesellschaft deutlich verbessern würden. Ein verstärkter Reiseverkehr könnte eine Alternative bieten, um der Annäherung an Russland entgegenzuwirken. Angesichts der großen Zahl von Familienmitgliedern, die im Ausland in der EU leben, sei dies ein nicht zu unterschätzender Faktor.

 

Während Menschen auf ihre Visa für die EU warten, gehen die politisch motivierten Verhaftungen und andere Repressionen in Belarus täglich weiter. Viele Menschen sehen die Visabeschränkungen jedoch nicht als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine. Sie betrachten sie vielmehr als Nachwirkung der Ereignisse von 2020. Die Schuld dafür wird den belarussischen demokratischen Kräften gegeben, da sie angeblich die Interessen der Bevölkerung nicht vertreten konnten. Laut Wissenschaftlern besteht die Gefahr, dass die pro-demokratische Bewegung von 2020 dadurch an Glaubwürdigkeit verliert.

 

Die belarussische Gesellschaft ist in vielen Dingen gespalten, auch in der Haltung zu Lukaschenko. In zwei Punkten herrscht laut Umfragen jedoch Einigkeit: „Sie wollen nicht Teil Russlands werden und sie wollen keinen Krieg gegen die Ukraine führen“, so Andrei Vazyanau.

 

Der Anthropologe gibt zu bedenken: „Das Problem für die belarussische Bevölkerung ist nicht die physische Grenze zur EU.“ Die meisten Menschen können nachvollziehen, dass als Reaktion auf die organisierte irreguläre Migration ein Zaun errichtet wurde. Was die belarussische Öffentlichkeit jedoch viel mehr beschäftigt, ist, warum die EU ihnen die Einreise so schwer macht. Die Situation ist grotesk: Während des Kalten Krieges war es ihr eigenes Land, die Sowjetunion, das ihnen Reisedokumente verweigerte. Heute ist es die EU, die den Reiseverkehr durch ihre Sanktionspolitik stark einschränkt.

 

Andrei Vazyanaus Forschung macht deutlich: Wenn die EU ihren Einfluss und ihre Sichtbarkeit in Belarus verstärken möchte, sollte sie über eine andere, eine liberalere Visapoltik für Belarussische Bürger nachdenken.

 

 

 

Andrei Vazyanau ist Dozent an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Europäischen Humanistischen Universität (EHU) in Vilnius. Das Interview hat als Online-Meeting stattgefunden, da er gerade im Urlaub war als ich in Vilnius war. Die EHU wurde 1992 in Minsk gegründet, musste aber 2005 aufgrund zunehmender Repressionen nach Vilnius umsiedeln.