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Zufluchtsort und Identität

 

Das Belarussische Kulturzentrum in einem Hinterhof der Altstadt von Vilnius ist mehr als nur ein Treffpunkt. Die litauische Hauptstadt war und ist ein wichtiger Zufluchtsort für Menschen aus Belarus und so ist das Zentrum eng mit der Geschichte der belarussischen Unabhängigkeitsbewegung und der Diaspora verbunden. Paulina Vitušcanka, eine 32-jährige Historikerin, die hier im Zentrum mitarbeitet und mitgestaltet, verkörpert diese Verbindung.

 

Ihre Eltern kamen Ende der 1980er Jahre nach Vilnius, um zu studieren. Beiden waren Aktivisten, die sich für einen souveränen belarussischen Staat einsetzten. Paulina selbst ist in Vilnius geboren und mit der belarussischen Sprache und Kultur aufgewachsen. Ihre Herkunft und die Geschichten ihrer Eltern prägten sie. So erfuhr sie, dass die Unabhängigkeitsbewegung in Litauen viel stärker war als in Belarus, da die Kolonialisierung durch die Sowjetunion in ihrem Heimatland viel stärker war. „Diese Politik führte dazu, dass die Identität des belarussischen Volkes viel mehr zerstört wurde.“ Während man in Litauen schon während der 1980er Jahre an das Ende der Sowjetunion glaubte, war man in Belarus vom Kollaps überrascht, zitiert Paulina ihren Vater.

 

Eine Geschichte der Verbundenheit

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts diente Vilnius belarussischen Intellektuellen und Aktivisten als Exil. Einer von ihnen war Ivan Ivanavič Luckievič, eine führende Figur der Unabhängigkeitsbewegung. Seine umfangreiche Sammlung zur Archäologie und Ethnografie sowie seine Bibliothek führten 1921 zur Gründung des Belarussischen Museums in Vilnius, das nach ihm benannt wurde. Mit der sowjetischen Okkupation wurde die Sammlung jedoch aufgelöst, und die Exponate auf verschiedene Museen in Litauen, Belarus und sogar Moskau verteilt. Das Museum, als Ausdruck belarussischer Identität, existierte nicht mehr.

 

Erst 2001 begannen belarussische Aktivisten in Vilnius, das Museum wiederzubeleben. Die heutige Sammlung lagert in Archivboxen in Regalen in einem kleinen Raum des Kulturzentrums und besteht hauptsächlich aus Fotos und alten Dokumenten. Paulina Vitušcanka, die gerade an der Universität in Tartu (Estland) zum Thema Erinnerungskultur promoviert, fühlt sich durch ihre Arbeit im Museum und Kulturzentrum mit dieser Geschichte verbunden. Ein besonders berührendes Exponat ist für sie eine Handarbeit, die eine belarussische Anwältin Ende der 1940er Jahre heimlich in einem sibirischen Arbeitslager anfertigte.  Paulina geht davon aus, dass sie dies heimlich anfertigte und verstecken musste. „Wahrscheinlich hat sie jeden einzelnen Faden einzeln aus alten Textilien gelöst.“

 

Paulina erzählt von einer Ausstellung im Museum, in der Handtücher aus zwei Jahrhunderten gezeigt wurden. „Darin ging es einmal um einen Alltagsgegenstand, den wir jeden Tag benutzen, aber auch um den alltäglichen Umgang mit unserem kulturellen Erbe.“ Manche Handtücher sind Teil der Aussteuer, manche reichbestickten Exemplare waren Geschenke für besondere Menschen, manche wurden als Kunstwerke für Galerien gefertigt und manche stammen aus der Massenproduktion. „Jedes Exemplar hat seine eigene Geschichte. An diesem Beispiel kann man gut die unterschiedlichen Denkweisen über das kulturelle Erbe diskutieren.“

 

Hilfsangebote und Zukunftspläne

Seit die Stadt Vilnius dem Verein 2021 das Gebäude zur Verfügung stellte, hat sich das Kulturzentrum zu einem wichtigen Treffpunkt und zu einer wichtigen Anlaufstelle für Menschen, die sich der belarussischen Kultur verbunden fühlen, entwickelt. Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 und den darauffolgenden Massenprotesten flohen viele Menschen vor dem Lukaschenko-Regime nach Vilnius. Paulina und ihr kleines Team haben es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Menschen zu helfen. Sie stellt jedoch fest, dass sich die Lebenswelten der belarussischen Diaspora stark unterscheiden: Die einen kamen schon in den 1990er Jahren zum Studieren oder Arbeiten nach Litauen. Sie sind mittlerweile Teil der litauischen Gesellschaft und haben jahrzehntelange Demokratieerfahrung. Allerdings haben sie nicht auf den Straßen in Minsk für Freiheit und Demokratie gekämpft mit der Gefahr im Gefängnis zu landen. Die Menschen, die aufgrund des Lukaschenko-Regimes in den letzten Jahren nach Vilnius kamen, sind oft traumatisiert von den Erlebnissen der letzten Jahre.  Es beschäftigt Paulina auch, was mit Menschen passiert, die ihr Heimatland verlassen müssen. Als Kind einer Minderheit in Vilnius kann sie sich vorstellen, wie es vielen Kindern heute geht.

 

Das Kulturzentrum hat ein vielfältiges Programm, um die belarussische Gemeinschaft zu unterstützen. Dazu gehören Integrations-Sprachkurse in Litauisch und Angebote, die Kindern helfen, ihre belarussische Sprache und Kultur zu bewahren. Es gibt zudem kreative Workshops, Kurse für belarussische Handarbeiten, Musik, Theater, Ausstellungen und eine Bibliothek mit belarussischer Literatur. Außerdem kooperiert das Team mit der ukrainischen Community, um Geflüchtete zu unterstützen.

 

Trotz der vielen Angebote und der großen Nachfrage ist die Zukunft des Zentrums ungewiss. Die Stadt Vilnius hat die Räume nur bis Ende des Jahres zugesichert. Wie es mit dem Kulturzentrum und dem Museum weiter geht, weiß Paulina Vitušcanka nicht. „Aber für die Menschen aus Belarus ist dieser Treffpunkt so wichtig. Eigentlich bräuchten wir noch mehr Möglichkeiten, um mit der belarussischen Community in Litauen über unsere Zukunft und unsere Identität zu diskutieren.“