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Darias Leben mit dem Krieg

 

Obwohl Daria nicht vor Bomben, Raketenangriffen und andauernden Drohnenattacken in Schutzräume flüchten muss, leidet sie unter dem russischen Angriffskrieg auf ihr Heimatland, die Ukraine.

 

Daria zog vor sieben Jahren der Liebe wegen von Odessa nach Vilnius. Sie fand einen Job, lernte litauisch, heiratete, schloss Freundschaften und wurde Teil der litauischen Gesellschaft. Mehrmals im Jahr reiste sie in die Ukraine, um ihre Familie und Freunde zu besuchen.

 

Am 24. Februar 2022, morgens um 5 Uhr, änderte sich alles. Ein Anruf ihres Bruders überbrachte die Nachricht vom Kriegsbeginn. „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es wirklich passiert. Ich wollte es auch nicht glauben, dass Russland in unser Land einmarschiert. Dieses Szenario hatte ich immer verdrängt.“

 

Die Nachricht erschütterte Daria zutiefst.  Ich habe es mit meinem ganzen Körper gespürt.“ Sie beschreibt Zustände, die Panikattacken gleichen. „Ich wusste oft nicht, wie ich mich persönlich beruhigen sollte.“ Daria stürzte in eine persönliche Krise und wusste zunächst keinen Ausweg, wie sie ihr Leben wieder in den Grifft bekommen sollte. Sie erzählt, dass sie schon in den Jahren große Verluste verkraften musste. „Vor vier Jahren starb mein Vater und dann meine beiden Großeltern.“  Sie meint, dass sie diese Verluste noch nicht verkraftet hatte, als sie die Nachricht vom Krieg erhielt. „Das war dann zu viel für mich.“

 

Darias Mutter lebt weiterhin in ihrem Haus in der Nähe von Odessa. „Wir haben immer wieder versucht, sie zu überreden, zu uns nach Litauen zu kommen“, erzählt Daria. „Aber sie möchte nicht Sie fühlt sich ihrer Heimat so verbunden, dass sie bleiben will.“ Für die 32-Jährige ist es schwer zu ertragen, dass ihre Mutter täglich der Gefahr ausgesetzt ist, Opfer des Krieges zu werden. Daria beruhigt sich selbst mit dem Gedanken, dass Odessa im Moment kein „Hotspot“ ist und es irgendwie möglich ist, dort zu leben. „Meine Mutter hat sich einen Raum im Keller eingerichtet, in dem sie auch ein paar Tage bleiben könnte.“ Daria erzählt, dass sie meistens dort schläft, weil sie dort die Kriegsgeräusche weniger hört und keine Angst haben muss, dass Fensterscheiben zersplittern. „Es ist eine permanente Angst, die das Leben der Menschen prägt. Und diese Angst überträgt sich auf mich“, so Daria.

 

Sie fühlt sich oft schuldig, weil sie es bisher nicht geschafft hat, ihre Mutter zu sich zu holen. „Zum einen vermisse ich sie sehr, zum anderen wüsste ich sie gerne in Sicherheit.“  Gleichzeitig betont sie: „Ich kann sie nicht zwingen. Ich muss ihre Entscheidungen akzeptieren. Wir haben so oft darüber gesprochen, dass sie weiß, dass sie jederzeit kommen kann.“

 

Daria berichtet von einem sehr engen Verhältnis zu ihrer Mutter. „Wir sind eigentlich ständig im Austausch und sprechen mehrmals täglich miteinander oder chatten. „Sie ist wie eine Freundin für mich, mit der ich alles teile.“ In der Ukraine war sie 2023 zum letzten Mal. „Jetzt habe ich Angst dorthin zu fahren. Die Lage kann sich so schnell ändern.“ Ihre größte Sorge ist, dass sie im Krieg feststecken könnte und das Land nicht mehr verlassen könnte. „Ich wäre keine Hilfe für mein Land und könnte nicht aktiv unterstützen, unser Land zu verteidigen.“ Deshalb trifft sie sich regelmäßig mit ihrer Mutter außerhalb der Ukraine, entweder in Litauen oder in einem anderen Land, das für ihre Mutter gut erreichbar ist.

 

Daria erzählt von ihrer Kindheit im Süden der Ukraine. „Eigentlich ist die Muttersprache in unserer Familie Ukrainisch.“ Doch während der Sowjetzeit sei diese Sprache so stark zurückgedrängt worden, dass für sie Russisch zur Muttersprache wurde. „Meine Großeltern haben immer ukrainisch gesprochen, aber ich habe immer russisch geantwortet.“ Und von ihrer Mutter weiß sie, dass in der Schule nur Russisch gesprochen wurde und Ukrainisch eine Stunde pro Woche als Fremdsprache unterrichtet wurde. Bücher auf Ukrainisch gab es so gut wie gar nicht. Heute versucht Daria, wieder Ukrainisch mit ihrer Mutter zu sprechen. „Aber es ist nicht immer leicht, wenn man immer gemeinsam russisch gesprochen hat.“

 

Daria erzählt, wie sie geschafft hat, aus ihrer persönlichen Krise herauszukommen. Der erste Schritt war, die Krise selbst anzuerkennen und zu akzeptieren. „Und dann habe ich viele Bücher gelesen, um den Zusammenhang zwischen Gehirn, Gefühlen und Köper zu verstehen.“ Es ist ihr wichtig, zwei Bücher, die ihr besonders geholfen haben, hervorzuheben. In “You Are the Placebo” erklärt Dr. Joe Dispenza, wie man die Kraft des Geistes nutzen kann, um die eigene Gesundheit zu verbessern, indem man die biologische Reaktion des Placebo-Effekts bewusst herbeiführt. Und der Psychiater Bessel van der Kolk beschreibt in „The Body Keeps the Score", wie traumatische Erlebnisse nicht nur den Geist, sondern auch das Gehirn und den Körper nachhaltig beeinflussen. Daria weiß, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss, um mit seinem Trauma umzugehen. „Mir haben diese Bücher sehr geholfen, so dass ich nur empfehlen kann, es zumindest zu versuchen, damit zu arbeiten.“ Da so viele Menschen in der Ukraine und auch außerhalb unter Kriegstraumata leiden, sieht sie in den Büchern einen wichtigen ersten Schritt: „Nicht jeder hat die Möglichkeit, sich in psychologische Behandlung zu begeben. Aber mit diesen Büchern kann man anfangen.“

 

Ein anderer wichtiger Ausgleich für Daria ist der Sport. Sie erzählt vom Radfahren, Laufen und Padel-Tennis angefangen. „Das hilft mir, mich zu fokussieren und schafft entspannte Glücksmomente.“

 

Doch der Krieg holt sie immer wieder ein. Sie erzählt von einem Neffen ihres Vaters, mit dem sie nach dem Tod des Vaters Kontakt aufgenommen hat und in regelmäßigen Austausch stand. „Er kämpfte an der Front. Eigentlich war es sehr optimistisch. Er wollte mich auch immer überzeugen, in die Ukraine zu reisen.“ Irgendwann bekam Daria keine Antwort mehr. Monate später erfuhr sie, dass ihr 36-jähriger Verwandter bei einem Mörserangriff getötet wurde. „Unsere Regierung sagte zu Beginn des Krieges, er könne jede Familie treffen. Genau das ist auch uns passiert."

 

Daria ist von der Hilfsbereitschaft der Menschen in Litauen gegenüber ihrem Land und den Menschen in der Ukraine beeindruckt. „Auch wir unterstützen so viel wie wir können, weniger aktiv aber durch finanzielle Unterstützung sowohl für humanitäre Hilfe als auch für die aktive Kriegsführung.

 

„Der Krieg hat uns alle verändert“, so Daria. „Ich habe immer die Fröhlichkeit und Offenheit meiner Mutter bewundert. Aber jetzt ist sie ausgelaugt und erschöpft.“ Aber das sei auch kein Wunder, wenn man über Jahre im Dauerstress versucht zu überleben. „Nie weiß man, was am nächsten Tag oder in der nächsten Minute passiert“, gibt sie zu Bedenken.

 

„Seit der Krieg begonnen hat, vermisse ich die Ukraine noch mehr“, sagt Daria. Obwohl Litauen mittlerweile ihre zweite Heimat ist und sie davon ausgeht, dass sie nach dem Krieg nicht zurückkehren würde, „würde ich meine Familie und Freunde viel öfter besuchen und vor allem meinen Hund wieder mal in die Arme schließen“, sagt sie mit einem leicht optimistischen Lächeln.

 

 

 

Ich habe Daria und ihre Freunde im strömenden Regen beim Warten auf eine Fähre über das Kurische Haff getroffen. Die drei waren auch mit dem Fahrrad unterwegs.